Nietzsche erklärte Gott für tot und warf Wagner vor, in seinem Alterswerk zu Kreuze gekrochen zu sein. Damit saß er einem fundamentalen Irrtum auf, ging es Wagner doch gerade um eine Erneuerung des Christentums durch die Kunst.
Wagner bezeichnete sein Opus Ultimum als Bühnenweihfestspiel und verlieh ihm damit einen religiösen Charakter, wobei er das Christentum als überkommen ansah und Religion als eine sich entwickelnde Wahrheit in verschiedenen historischen Gestalten verstand. In seiner Schrift „Kunst und Religion“ aus dem Jahr 1880, die einen philosophischen Kommentar zum Parsifal darstellt, schreibt er der Kunst die Aufgabe zu, den Kern der Religion zu retten. Der christliche Ritus als Teilhabe an einer göttlichen Wahrheit ist für Wagner substanzlos geworden, allein die Kunst vermag deren verborgene tiefe Wahrheit noch zu vermitteln.
Wagner komponierte sein Bühnenweihfestspiel exklusiv für das Bayreuther Festspielhaus und versah das Werk mit einer Schutzfrist. Nach der Uraufführung im Jahr 1882 durfte es 30 Jahre nirgendwo anders aufgeführt werden, da Wagner die Profanisierung auf einer Opernbühne mit einem herkömmlichen Repertoirebetrieb befürchtete. Statt sich zu amüsieren, sollte der Zuschauer sich durch das Kunsterlebnis gereinigt und geläutert fühlen.
Der Parsifal stellt mehr ein Epos als ein Drama dar, da der Musik nicht die Aufgabe zukommt, das gesprochene Wort zu dramatisieren, sondern das Geschehen zu kommentieren. Leitmotive knüpfen Verbindungen zur Vorgeschichte und vergegenwärtigen das Vergangene. Wagner schuf für das Bayreuther Festspielhaus einen magischen Orchesterklang. Der Orchestergraben wurde zum ersten Mal abgedeckt, so dass der Klang, nun aus dem Graben auf die Bühne umgelenkt, sich besser mit den Stimmen der Sänger mischt. Unsichtbare Höhenchöre erklingen von den unterschiedlichen Ebenen im Bühnenturm und schaffen einen sphärischen Raumklang zum Abendmahlritual, das im „Parsifal“ nur noch Sinnbild für eine spirituelle Kräftigung und Reinigung ist, doch längst keine Wirkung mehr auf die Gralsritter zeigt.
Dieser Männerbund, der sich dem Erhalt christlicher Werte und der Keuschheit verschrieben hat, hütet den Heiligen Gral, der Überlieferung nach die Schale des letzten Abendmahls, in der das Blut Christi nach dem letzten Speerstoß am Kreuz aufgefangen worden ist. Die Glaubensgemeinschaft ist vom Untergang bedroht, nachdem Amfortas, der Anführer der Gralsritter, den Heiligen Speer an Klingsor verlor. Er ist ein Abtrünniger, der dem Keuschheitsgebot nicht gerecht wurde und sich in einem Akt des Selbsthasses entmannte. Nun will er den Untergang der Gralsgemeinschaft herbeiführen. In seinem Zaubergarten erliegen die Gralsritter den Verführungskünsten seiner Blumenmädchen. Kundry, die den Heiland einst am Kreuz verhöhnte und als Dienende und als Hure zwischen beiden Welten umherirrt, steht ebenfalls in Klingsors Diensten. Sie war diejenige, die Amfortas verführte, so dass Klingsor ihm während des Liebesaktes den Speer rauben und ihm eine Wunde im Unterleib zufügen konnte, die nicht mehr heilt.
Der Gralskönig ist somit zu einem sündigen Hüter des Heiligtums geworden, die Enthüllung des Grals wird zu einem peinigenden Ritual, bei dem die Wunde immer wieder aufbricht und ihn an seine Schuld gemahnt. Es gibt nur einen Ausweg aus der schuldhaften Verstrickung: Ein Außenstehender muss den Speer zurückgewinnen und der Macht des Sexus entsagen. Ein Außenstehender wird zum Hoffnungsträger: Parsifal, der als reiner Tor auftritt, wird durch Mitleid wissend und erkennt den Schuldzusammenhang, als Kundry auch ihn zu verführen versucht. Er widersteht und erringt den Speer zurück, so dass Klingsors Reich vergehen muss. Nach Jahren des Umherirrens trifft er auf die verwahrloste Gralsgesellschaft, der er den Speer zurückbringt. Er salbt und tauft die Sünderin Kundry, heilt die Wunde Amfortas‘ und enthüllt als neuer König den Gral. „Höchsten Heiles Wunder, Erlösung dem Erlöser“ sind die letzten Worte des Chores. Die Hoffnung auf eine durch allumfassende Menschenliebe geläuterte Gemeinschaft scheint auf.
Eine Aufführung dieses ergreifenden und aktuellen Musikdramas, das in zwei sehr unterschiedlichen Lesarten an der Kölner Oper (Fura del Baus) und dem Essener Aalto-Theater (Joachim Schlömer) zu sehen ist, sollte man sich nicht entgehen lassen.
„Parsifal“ I Oper Köln/Aalto Theater Essen
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