Zuschauen – darin liegt vielleicht das größte Vergehen angesichts individuellen Leids. Im Theater der Keller sitzen die Figuren im Zuschauerraum und starren wie das Publikum emotionslos geradeaus. Und die illegalen Migranten Elisio (Tuong Phoung) und Fadoul (Nedjo Osman) schauen einer Frau beim Ertrinken zu, anstatt zu helfen. Nur ihre Körper zucken empathisch.
Nada Kokotović und das Theater TKO bringen Dea Lohers Szenenkonvolut „Unschuld“ auf die Bühne des Theaters der Keller. Ein Reigen liebesbedürftiger Wesen, die nach Trost und nach Ersatz für zerplatzte Lebensträume suchen und sich in einer Stadt am Meer begegnen. Die Blinde (Natalie Forester) strippt vor Männern; sehnsüchtig umstreift sie den verwirrten Fadoul und lädt ihn in den Club ein, was der mit gespieltem Widerwillen ablehnt. Mit exzessiv-sarkastischer Selbstsucht quartiert sich Doris Plenert als Mutter bei dem durchgeknallten, zum Bestattungsunternehmer umgeschulten Franz (Klaus Nicola Holderbaum) und seiner sich versteifenden Frau Rosa (Katharina Waldau) ein. Brillant schließlich die Szene, wenn der hektische Fadoul in einer Tüte Geld findet und daraus einen Gottesbezug herstellt. Die Regie lässt die erzwungene zivilisatorische Contenance, die in den starren Zuschauerreihen ihre Metapher findet, durch ausbrechende Körper konterkarieren. Da wird über die Reihen gestiegen, Körper rollen über Sitze und Bänke. Doch das Bild erweist sich schnell als allzu statisch. Die Zwänge der Gesellschaft sind vielgestaltiger. Auch das Theater selbst ist zu klein für solche choreografischen Lösungen. Die brillanten Leistungen der Schauspieler entschädigen allerdings für dieses Manko.
„Unschuld“ | R: Nada Kokotović | 26.9., 10., 17.10. je 20 Uhr | Theater der Keller | 0221 31 80 59
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