Bettina Flitner gelingt beides: Ihre fotografischen Serien sind bildjournalistische Reportagen und sie sind Kunst. Die Michael Horbach Stiftung unterstreicht dies mit ihrer Ausstellung, die zehn politische Serien der letzten 25 Jahre umfasst. – Wie alles begann? Bettina Flitner schlägt in ihrem Atelier in der Kölner Südstadt den Katalog zur Werkgruppe „Mein Feind“ (1992) auf. Jede der s/w-Aufnahmen porträtiert eine Frau im Gegenüber. Eine schreitet energisch nach vorne aus. Über der Schulter einen Sack, hält sie in der anderen Hand ein Schwert und blickt mit funkelnden Augen, als warte sie nur auf den Feind. Darunter steht in Druckbuchstaben ein Statement der Frau. Bettina Flitner hatte das Foto lebensgroß mit weiteren Transparenten in einer Fußgängerzone in Köln platziert. Grundlage war die Frage an zufällige Passanten: „Haben Sie einen Feind, und wenn ja, was würden Sie mit ihm tun, wenn Sie es ohne Strafe tun könnten?“ Anschließend fotografierte sie die Personen – sämtlich Frauen – mit einer Spielzeugwaffe, die sie selbst ausgewählt hatten: Die Reaktionen auf diese provokante Bildfolge mitten auf der Straße waren enorm.
Auch weiterhin wendet sich Bettina Flitner in intensiver szenischer Einlassung einzelnen Personen zu, häufig aus Randgruppen, deren Situation oder Motivation sie urteilsfrei befragt. Meistens setzt sie eine Aussage des Porträtierten unter das Foto. Nicht zufällig erinnern diese Verfahren an Strukturen der filmischen Reportage. Nach einer Ausbildung als Cutterin beim WDR hat Flitner in Berlin an der „Deutschen Film- und Fernsehakademie“ studiert. Der Film zur Installation von „Mein Feind“ war dort ihre Abschlussarbeit und bedeutete zugleich ihre Hinwendung zur Fotografie, überwiegend von Köln aus. Sie fotografiert seitdem für die Zeitschrift „Emma“, ebenso für den „Stern“ oder „Cicero“ sowie für humanitäre Organisationen. Diese treffen sich oft mit den Anliegen ihrer freien Projekte. Eine Frau, die Flitner für eine Recherche zum Thema Armut in der Stadt fotografiert hat, tritt innerhalb der „Boatpeople“ wieder auf: Bei dieser Farb-Serie befinden sich unterschiedliche Menschengruppen in einem Kahn aus Burma, den Flitner auf den Rhein transloziert hat. Der Titel und das Boot auf dem Wasser geben einen Ton vor, den sie in ihre Aussagen integriert: mit der Verschiedenheit der Menschen, wie sie auf dem Boot in Erscheinung treten, und in der Stimmung des Flusses mit dem gegenüberliegenden Ufer.
Genauso lässt sie sich auf konfrontative Themen ein. Dazu gehört die Serie „Ich bin stolz, ein Rechter zu sein“, für die sie mit jungen Männern in einem Berliner Randbezirk gesprochen hat. Zu sehen sind ein Close-up des jeweiligen Gesichtes und die Ganzfigur in ihrem Habitus in ihrer täglichen Umgebung: Auf der Art Cologne 2001 hat Flitner mit diesen Fotos alle Wände eines Raumes bedeckt, so dass ein bedrängendes Klima entstand. Mit dieser Arbeit etablierte sie sich endgültig im Kunstbereich. Ihre Themen greift Flitner wiederholt, teils aus verschiedenen Perspektiven auf. Dazu gehören auch die Prostitution, Frauen wie Freier, Porträts von weiblichen Persönlichkeiten und die Wiedervereinigung aus der Perspektive von Bewohnern der ehemaligen DDR.
2013 ist sie in den Osten gereist, nach Mestlin, das als Musterdorf in den 1950er Jahren errichtet wurde und in dem sie die Bewohner um ein Erinnerungsstück und eine Geschichte aus den DDR-Jahren befragte. Entstanden sind anrührende Farbaufnahmen, die den Einzelnen zu Wort kommen lassen. Eine Hausfrau lässt zwischen ihrer Wäsche im Garten an eine stolze Fahnenträgerin denken. Vielleicht ist das sowieso die größte Leistung von Bettina Flitner: Inneres behutsam nach außen zu kehren und so nachhaltige Diskussionen zu initiieren.
„Bettina Flitner – Face to Face“ | bis 21.4.| Kunsträume der Michael Horbach Stiftung | 0221 29 99 33 78
Hat Ihnen dieser Beitrag gefallen? Als unabhängiges und kostenloses Medium sind wir auf die Unterstützung unserer Leserinnen und Leser angewiesen. Wenn Sie uns und unsere Arbeit finanziell mit einem freiwilligen Betrag unterstützen möchten, dann erfahren Sie über den nebenstehenden Button mehr.
Berührungsängste verboten
„Memory is not only past“ in der ADKDW – Kunst 04/24
Zauber der Großstadt
Nevin Aladağ im Max Ernst Museum Brühl des LVR – kunst & gut 04/24
Das Verbot, sich zu regen
„Es ist untersagt ...“ von Frank Überall im Gulliver – Kunstwandel 04/24
Makroproteste in der Mikrowelt
Agii Gosse in der Galerie Landmann-31 – Kunstwandel 03/24
Ein König schenkt
Schenkungen von Kasper König an das Museum Ludwig – kunst & gut 03/24
Aufscheinende Traditionen
Helena Parada Kim im Museum für Ostasiatische Kunst – kunst & gut 02/24
Expansion in die Löwengasse
Kunstraum Grevy eröffnet Pop-Up-Store „Grevy Satellite“ – Kunst 02/24
Faszination für krumme Linien
Julja Schneider im Maternushaus – Kunstwandel 02/24
Ohne Filter
„Draussensicht“ in der Oase – Kunstwandel 01/24
Malen mit der Farbe
Rolf Rose im Kunstmuseum Villa Zanders in Bergisch Gladbach – kunst & gut 01/24
Augenöffner im Autohaus
„The Mystery of Banksy“ in Köln – Kunstwandel 12/23
Gespür für Orte
Füsun Onur mit einer Retrospektive im Museum Ludwig – kunst & gut 12/23
Ereignisreiche Orte
Simone Nieweg in der Photographischen Sammlung der SK Stiftung im Mediapark – kunst & gut 11/23
Woyzeck im Karneval
„kah.na.v‘aw“ in der Akademie der Künste der Welt – Kunstwandel 11/23
„Das sind keine elitären Räume“
Künstlerin Rike Hoppse und Mitorganisatorin Lea Geraedts über die 18. KalkKunst – Interview 10/23
Die Revolution des Friedens
„Héroïnes“ im Bunker K101 – Kunst 10/23
Sehen in Lichtgeschwindigkeit
Horst H. Baumann im Museum für Angewandte Kunst – kunst & gut 10/23
Ein Leben lang im inneren Tod
Claire Morgan in der Galerie Karsten Greve – Kunstwandel 09/23
Seitwärts tickende Zukunft
Museum Ludwig zeigt „Über den Wert der Zeit“ – Kunst 09/23
Die eigene Geschichte
„Ukrainische Moderne & Daria Koltsova“ im Museum Ludwig – kunst & gut 09/23
Schatten schlägt Licht
„Sommerwerke 2023“ in der Galerie Kunstraub99 – Kunstwandel 09/23
Sturzflug der Vogelmenschen
„In der Idolosphäre“ in Köln – Kunst 08/23
Gestohlene, zerstörte Erinnerungen
„Artist Meets Archive“: Lebohang Kganye im RJM – kunst & gut 08/23
Die Farbe der Ironie
Bonn zeigt Werkschau zu Wiebke Siem – Kunst 07/23
Farbsehen und Raumfühlen
Mechtild Frisch in der Villa Zanders in Bergisch Gladbach – kunst & gut 07/23