Welcher Autor kann schon eine Auflage von einer halben Milliarde Bücher aufweisen? Georges Simenon ist der erfolgreichste Schriftsteller des 20. Jahrhunderts. Anlässlich seines 30. Todestags reist sein ältester Sohn John Simenon durch Mitteleuropa und wirbt für die Neuauflage des Werks seines Vaters im Kampa Verlag in Zürich und bei Hoffmann & Campe in Hamburg. Auch die Stadt Lüttich wirbt mit ihrem berühmten Sohn, dem immer wieder eine französische Nationalität angedichtet wurde. John Simenon erinnert sich, dass sein Vater deshalb in manch heikle Situation geriet. Als Simenon nach dem Zweiten Weltkrieg acht Jahre in den USA lebte, befand er sich im Zenit seiner Popularität. Der französische Botschafter fühlte sich veranlasst ihm zu Ehren in Washington einen großen Empfang zu veranstalten. Bis ihm am Ende des Abends die Information zugetragen wurde, dass sein Gast Belgier sei. „Darauf drehte sich der Botschafter zu meiner Mutter Denise um“, erzählt John Simenon, „und fragte: ‚Sie sind aber Französin?‘ Worauf sie antwortete: ‚Ich komme aus Quebec‘.“
Aufgewachsen ist Georges Simenon nur einen Steinwurf entfernt vom Rathaus in Lüttich. Die Mutter unterhielt dort eine Pension, so dass der Sohn mit Menschen aus ganz Europa aufwuchs. „Die Begegnung mit Fremden hat ihn geprägt, insofern war die Stadt ein reiches Biotop für ihn. Ein Leben lang betrachtete er die Welt aus der Perspektive eines Lüttichers. Aber dann wurde ihm die Stadt zu klein. Er ging nach Paris und lernte dort sein Handwerk“, meint John Simenon und fügt hinzu, „ihm ging es darum, die Menschen zu verstehen und nicht über sie zu urteilen.“ Tatsächlich formuliert er damit das Motto des gigantischen Werks dessen Säulen die 117 Romane und die 75 Maigrets sind. Vom Zimmermädchen bis zum Staatspräsidenten vermochte Simenon in die Lebensrealität einer jeden Figuren zu schlüpfen. Hoffmann & Campe präsentiert jetzt unter seinem Label Atlantik alle Romane als Taschenbücher. Ein kühnes Unterfangen, wenn man bedenkt, dass erst im letzten Jahr die gebundenen Versionen gestartet wurden.
Man klotzt auch gleich mit Spitzentiteln wie dem Roman „Chez Krull“, der Geschichte einer deutschen Familie, die am Vorabend des Zweiten Weltkriegs dem Misstrauen einer aufgehetzten Menge in Nordfrankreich ausgesetzt ist. Überraschend bleibt immer wieder die Vielseitigkeit Simenons, der trotz seiner enormen Produktion keinem Strickmuster folgte. So schuf er mit „Das Haus am Kanal“ die Entwicklungsgeschichte eines jungen Mädchens, das von Brüssel zu seinen entfernten Verwandten aufs Land zieht und mit seiner erwachenden Sexualität eine Tragödie auslöst. Ein Roman, bildmächtig wie ein Breitwandfilm. Die Arroganz des kolonialen Europa seziert Simenon hingegen in „Die Schwarze von Panama“ und er zeigt wie man die alten Herrschaftsstrukturen hinter sich lässt. Den vielleicht besten Maigret gibt es jetzt ebenfalls als Taschenbuch. Mit „Maigret und die junge Tote“ zeigt sich der Kommissar von seiner verletzlichen Seite. Letztlich sind alle Romane Simenons Gesellschaftsromane und die neue Edition zeigt, wie sie auf wundersame Weise immer noch an Aktualität gewinnen.
Georges Simenon: Die Schwarze von Panama | Dt. v. Ursula Vogel | Atlantik Verlag | 208 S. | 12 €
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