Das Langfilmdebüt der litauischen Regisseurin Saulė Bliuvaitė „Toxic“ (OmU in der Filmpalette und in den Lichtspielen Kalk) erzählt von zwei 13-jährigen Mädchen, die sich in einer trostlosen industriellen Peripherie über eine Modelagentur einen Ausbruch aus ihrem Leben erhoffen. Die eine wird gemobbt, weil sie hinkt, und versucht in der Modelagentur ihren Gang zu perfektionieren. Die andere probiert alles zwischen Diebstahl, Drogen, Jungs und Bandwurmdiät aus. Doch trotz aller Widrigkeiten hält das ungleiche Paar in der rauen Umgebung zusammen. Die Laiendarstellerinnen Vesta Matulytė und Ieva Rupeikaitė und die vielen beeindruckenden Nebendarsteller:innen tragen ebenso wie das trostlose Ambiente viel zum Realismus des Films bei, während die visuelle Poesie der Kamera dazu einen ähnlich reizvollen Kontrapunkt setzt wie zuletzt in Andrea Arnolds „Bird“.
Seit über zwei Jahrzehnten wird bei vielen Flüchtlingskindern beobachtet, wie sie reglos im Bett liegen, nicht ansprechbar sind und keine Nahrung mehr aufnehmen. Diese radikale Form der Wirklichkeitsflucht wird als „Resignationssymptom“ bezeichnet. Der griechische Regisseur Alexandros Avranas spinnt daraus in „Quiet Life“ eine gelungene, treffliche Satire. Das russische Ehepaar Sergei (Grigory Dobrygin) und Natalia (Chulpan Khamatova) flieht mit den zwei Töchtern Katja und Alina nach Schweden. Nach ein paar friedlichen Wochen kommt der Tag der Entscheidung: Der Asylantrag wird aus Mangel an Beweisen abgelehnt. Kurz darauf klappt Katja auf dem Schulhof zusammen und wacht nicht wieder auf. Was nun folgt, mag satirisch überspitzt sein. Aber wie jede Satire, beruht es auf realen Zuständen. Und was uns Avranas hier auftischt, ist irrwitzig absurd, im Kern aber schmerzhaft bitter: Kinder, die dem Resignationssyndrom erliegen, werden von den Eltern getrennt, um sie vor Ängsten und Sorgen zu schützen. Die Eltern werden nun zum Versuchskaninchen und sollen lernen, zu lachen.
Der englische Lehrer Tom Michell (Steve Coogan) nimmt in den 1970ern einen Job in einem Internat für privilegierte Jungen in Buenos Aires an. Dann wird Argentinien von dem Militärputsch überzogen. Das Grauen macht auch nicht vor den Schulpforten Halt. Auf einer kurzen Auszeit in Uruguay rettet Tom widerwillig einen Pinguin – und wird ihn nicht mehr los. Basierend auf dem autobiografischen Roman von Tom Michell, wirkt in der vergnüglichen Tragikomödie „Der Pinguin meines Lebens“ (Cinedom, Cinenova, Odeon, UCI, Weisshaus) von Peter Cattaneo („Ganz oder gar nicht“) vielleicht manches arg geschliffen. Darüber darf man aber getrost hinwegsehen, denn Steve Coogan als schicksalsgebeutelter Zyniker macht großen Spaß, der Film ist durchdrungen von flottem, britischem Dialogwitz und die Beziehung von Mensch zu Pinguin und zurück ist wunderbar absurd gezeichnet. Zugleich vermag der Film, bei allem Spaß auch das Grauen der Militärdiktatur, die Verzweiflung der Opfer und individuelles Versagen zu thematisieren.
Außerdem neu in den Kinos: das Selbstfindungsdrama „Julie bleibt still“ (OmU im Filmhaus) von Leonardo Van Dijl, der preisgekrönte Dokumentarfilm „Eine letzte Reise“ (OmU im Cinenova und Odeon) von Fredrik Wikingsson und Filip Hammar, das Thrillerdrama „Klandestin“ (OmU in der Bonner Kinemathek) von Angelina Maccarone, das biografische Drama „Mein Weg – 780 km zu mir“ von Bill Bennett, der Actioner „The Accountant 2“ (Cinedom, Cineplex, Residenz, Rex, UCI) von Gavin O'Connor und die Videospiel-Adaption „Until Dawn“ (Cinedom, UCI) von David F. Sandberg.
Hat Ihnen dieser Beitrag gefallen? Als unabhängiges und kostenloses Medium sind wir auf die Unterstützung unserer Leserinnen und Leser angewiesen. Wenn Sie uns und unsere Arbeit finanziell mit einem freiwilligen Betrag unterstützen möchten, dann erfahren Sie über den nebenstehenden Button mehr.
Glück, frisch aufgebrüht
Die Filmstarts der Woche
Geschosse umarmen
Drei Ausstellungen in Köln erweitern das Bewusstsein – Galerie 06/25
Gesundheit ist Patientensache
Teil 1: Lokale Initiativen – Die Patientenbeteiligung NRW in Köln
Die Suche nach der Seele
„Rusalka“ in Düsseldorf – Oper in NRW 06/25
Neugier auf Neues
Johanna Summer und Malakoff Kowalski in Düsseldorf – Improvisierte Musik in NRW 06/25
Wenn der Shareholder das Skalpell schwingt
… und der Patient zur Cashcow wird – Glosse
Ausgefallene Begegnung
Herbert Grönemeyer dirigiert in Bochum und Essen – Klassik an der Ruhr 06/25
Wurzeln inmitten von Ruinen
„Floating Seeds“ vom Theater der Keller – Prolog 06/25
„Der Arzt muss dieses Vertrauen würdigen“
Teil 1: Interview – Kommunikationswissenschaftlerin Annegret Hannawa über die Beziehung zwischen Arzt und Patient
Kahlschlag in der Freien Szene
Massive Kürzungen der NRW-Kulturförderung drohen – Theater in NRW 06/25
Im Abschiebegefängnis
„An Hour From the Middle of Nowhere“ im Filmhaus – Foyer 06/25
Senioren und Studenten müssen warten
Das Wohnprojekt Humanitas Deventer verbindet Generationen – Europa-Vorbild: Niederlande
Ein Leben, das um Bücher kreist
„Roberto und Ich“ von Anna Katharina Fröhlich – Textwelten 06/25
Lustvolle Inspirationsquelle
Das Circus Dance Festival 2025 in Köln – Tanz in NRW 06/25
Fortsetzung folgt nicht
Serielles Erzählen in Arthouse und Mainstream – Vorspann 06/25
So ein Pech
Teil 1: Leitartikel – Opfer von Behandlungsfehlern werden alleine gelassen
Mit und ohne Menschen
Tata Ronkholz in der Photographischen Sammlung im Mediapark – kunst & gut 05/25
Anruf der Legenden
JD McPherson im Luxor – Musik 05/25
Die Spielarten der Lüge
„Die ganze Wahrheit über das Lügen“ von Johannes Vogt & Felicitas Horstschäfer – Vorlesung 05/25
Macheath als Clown
„Die Dreigroschenoper“ am Theater Bonn – Auftritt 05/25
Tiefgründige Leichtigkeit
Marc Chagall in der Düsseldorfer Kunstsammlung NRW – Kunst in NRW 05/25
Die Macht der Vergebung
„American Mother“ am Theater Hagen – Oper in NRW 05/25
„Gründet nicht für Geld“
Wie Kölner Studenten mit KI Anträge auf Sozialleistungen erleichtern wollen – Spezial 05/25
Im Fleischwolf des Kapitalismus
„Tiny House“ von Mario Wurmitzer – Literatur 05/25
Für die Unendlichkeit
Drei Kölner Ausstellungen zwischen Zwang und Befreiung – Kunst 05/25