Als Sasha Marianna Salzmann kleine feine Witze reißend im Alten, ausverkauften Pfandhaus sitzt, wirkt sie irgendwie zierlich. Ihr Debütroman „Außer sich“ ist das eher nicht, sondern ein auf allen Ebenen hoch komplexer, komplizierter Schmöker, der es in sich hat und der vor „künstlerischer Verwirrung“, wie die Autorin es bezeichnet, nur so strotzt. Gemäß ihrer Lieblingsaussage „Alles ist fluide“ und „Nichts steht fest“ ist das 2017 veröffentlichte, bereits preisgekrönte Werk nicht chronologisch verfasst, sondern voller Sprünge und Überraschungen. Ein Projekt, das sich stetig – wahrscheinlich jetzt noch – im Prozess befindet. „Ein Buch ist immer ein Akt. Ein Prozess“, sagt die 32-Jährige in Russland geborene, heute in Deutschland lebende Schriftstellerin und Essayistin, die zugibt, sich zu freuen, am Weltfrauentag vorlesen zu dürfen, geht es in ihrem Buch doch auch – unter anderem – um Frauen und ihre Bewegung.
In „Außer sich“, aus welchem die Dramatikerin und Theater-Autorin überwiegend auf Deutsch, mal auf Russisch und auch ein kleines bisschen auf Jiddisch vorträgt, geht es um die Suche nach kultureller, sprachlicher, politischer und sexueller Identität, auch wenn sie das Wort „Identität“ nicht so gerne mag, wie Salzmann betont. Genauer gesagt um die Suche nach dem Ich der Zwillinge Alissa, je nach Perspektive auch „Ali“ genannt, und ihrem Bruder Anton. Ihr Werk teilt sich in drei Teile, die Salzmann konträr zu der ursprünglichen Reihenfolge an diesem Leseabend auf der lit.Cologne zeitlich chronologisch vorträgt. Beginnend im Jahr 1936 mit der Geschichte der Großeltern, Schura und Etja, die sich unter schwierigen Umständen unter den Vorzeichen des Nationalsozialismus‘ in einer Universität kennenlernten. Wie die Großmutter dem Großvater mit den, wie sie sagt, „lilafarbenen“ Augen zunächst eine Abfuhr erteilte, bevor sie schließlich doch seinem Charme erlag.
„Ursprünglich wollte ich gar keine jüdische Geschichte schreiben“,erzählt Salzmann, sondern, ausgelöst durch ihren eigenen Aufenthalt in Istanbul, sei ihre eigentliche Motivation gewesen, über die Ereignisse im Gezi-Park zu berichten, verbrachte sie doch insgesamt vier Jahre in der Metropole am Bosporus. Das tut sie auch immer noch, jedoch entschloss sie sich dazu, die Geschichte der Großeltern ebenfalls zu integrieren: „Wenn du dir was vornimmst beim Schreiben, und am Ende ist alles ganz anders, hast du alles richtig gemacht“, sagt sie lachend. Zwar ist ihr Roman nicht autobiografisch, jedoch gesteht sie: „So bin ich also doch bei meiner Mutter angekommen. Also, bildlich. Man kann seine Familiengeschichte nicht ganz ausblenden.“
Gefolgt von der Geschichte der Emigration Valentinas und Konstantins, den Eltern Alissas und Antons, als jüdische Kontingentflüchtlinge vom postsowjetischen Russland in ein Asylantenheim in einer Provinz in West-Deutschland, wo die Geschwister zunächst Fremden Zigarettenschachteln klauen. Eine lange Zugreise, bei deren Ankunft das kleine Mädchen Ali auf deutschem Boden auf die Füße des Mannes vor ihr kotzt, indem ein offenbar schwerverdauliches Hähnchen aus ihrem Mund herauspurzelt. So sehr ihre Eltern es auch wünschen, kann sich Ali nicht auf Deutsch für die ausgespuckten Kotzbrocken entschuldigen. Die messerscharfe Ironie liegt hier darin, dass sich ausgerechnet ein Enkelkind verfolgter Juden bei einem Deutschen entschuldigen soll. Sinnbildhaft kullern Bröckchen der Erinnerung auf deutschen Boden. Wohlbemerkt „Bröckchen“, denn auch die Erinnerung ist aus Salzmanns Sicht nicht klar, nicht definierbar: „Ich glaube, dass Erinnerung ein zentrales Thema dieses Romans ist. Das Umschreiben von Erinnerung, diese Fetzen, die angeblich etwas Ganzes ergeben sollten, was aber unmöglich ist“, sagt sie.
Auch wenn nichts in ihrem Roman klar ist, steht eines fest: Kategorisierungen mag sie nicht. Faszinierend ist, dass sie, vielleicht durch ihr Studium der Theater- und Medienwissenschaft sowie des Szenischen Schreibens und durch ihre Tätigkeit als Dramatikerin inspiriert, sich bewusst mit ihren eigenen Texten metafiktional auseinandersetzt. So entsteht auch ein reger Dialog zwischen ihr und Moderator Ulrich Noller über das Schreiben an sich. Jener fragt, ob sie sich bewusst sei, was sie schreibe: „Ich finde schon, dass ich als Autorin eine gewisse Verantwortung trage, was ich schreibe und wie ich es schreibe. Zu behaupten, ich wüsste nicht, wie das Publikum reagieren würde, finde ich naiv“, antwortet Salzmann.
Im dritten Teil von „Außer sich“ geht es schließlich um die spätere Suche Alis nach ihrem verschollenen Zwillingsbruder in Istanbul, wo sie zunächst auf ihren Onkel trifft, mit dem sie vor allem viel gemeinsam raucht. Istanbul beschreibt sie als einen fluiden, magischen Ort, in den sie sich regelrecht verliebt hat. Einer, an dem die Menschen fragen: Wer bist du? Anstatt, wie in Deutschland, zu fragen: Was machst du beruflich? Die Metapher mit dem schwer verdaulichen Hähnchen zieht sich durch den gesamten Roman. So hat Ali, als sie ihren Bruder sucht und diesmal versehentlich für eine russische Prostituierte gehalten wird, erneut das Gefühl, ein Federtier sitze quer in ihrem Magen.
Es sind diese sticheligen ironischen Witze, die Salzmanns Roman lesenswert machen, weshalb er nicht umsonst auf die Shortlist des Deutschen Buchpreises 2017 gesetzt wurde. Im von Demonstrationen aufgeheizten Istanbul gerät Ali in einen Strudel von Ereignissen, in welchem sie u.a. eine(n) Transgender-Tänzer(in) aus Odessa namens „Katho“ oder auch „Katharina“ oder „Katüscha“, kennenlernt, dessen Verwandlung von Frau zu Mann sie miterleben darf. Im Verlauf des Romans zerfällt auch Alis eigene sexuelle Identität mehr und mehr. So nimmt sie schließlich Hormone und transformiert. Aus Alissa wird schließlich nicht nur buchstäblich, sondern „tatsächlich“ Ali. Nichts ist sicher in „Außer sich“, das Ich löst sich auf.
„Außer sich“ ist kein einfaches, sondern ein sperriges, gesetzloses Buch, das nicht gefallen möchte, und das von seinem Leser viel fordert. Aber es ist darum umso wundervoller, als es der Autorin gelingt, eine hoch komplexe Geschichte zu erzählen und dabei gleichzeitig das, was sie nicht mag, Schubladen, gänzlich aufzulösen. Und gewissermaßen ist es damit politisch, da es wortwörtlich Grenzen überwindet.
Sasha Marianna Salzmann: Außer sich | Suhrkamp | 366 S. | 22 €
lit.Cologne | bis 17.3. | www.litcologne.de
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