Die Liste der Preisträger, die mutig gegen Unterdrückung und Totalitarismus kämpften, ist lang. Letztes Jahr erhielt Swetlana Alexijewitsch den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels für ihre Reportagen über jene Menschen, die in Putins Russland zu den Opfern absurder Großmachtambitionen gehören. Ihre Vorgänger Liao Yiwu und Boualem Sensal prangerten den staatlichen Terror in China und Algerien an. Nun erhält der in New York geborene Jaron Lanier den Preis. Ein Computertüftler, der 3D-Kameras entwickelte und die ersten Avatare erschuf. Aber der Börsenverein bleibt sich treu, auch Lanier stemmt sich gegen eine Form des Totalitarismus, deren Vorboten wir im Moment als mediales Gezänk wahrnehmen.
John Green, der die Teenager auf unseren Schulen spätestens seit seinem Megaseller „Das Schicksal ist ein mieser Verräter“ hinter sich weiß, prangert an der Seite von James Patterson und Joanne K. Rowling die Geschäftsmethoden an, mit denen Amazon in den USA und Europa die Buchverlage attackiert. Lanier warnte schon vor 15 Jahren vor der Macht-Akkumulation von Konzernen wie Amazon und Google, deren Erfolge mit dem Fortschritts-Optimismus der Digitalisierung verschmolzen waren. Ein Entwickler, der zum Warner mutierte, wie vor ihm schon Joseph Weizenbaum und Clifford Stoll.
Jaron Lanier prägte den Begriff des „digitalen Maoismus“. Gemeint ist eine Praxis diktatorischer Regime, bei der die Masse den Einzelnen ausstellt, um mit Hilfe seiner abschreckenden Zerstörung den inneren Zusammenhalt der Gruppe zu festigen. Zugleich warnte Lanier in seinen Büchern „Gadget, warum die Zukunft uns noch braucht“ und „Wem gehört die Zukunft?“ vor jenem Wunschdenken, das den Ausbau des Internets mit einer Verbreitung des Wissens gleichsetzt. Zwar ist der leichte Zugang zur Information ein Fortschritt, aber mit ihm ist das Wissen noch nicht erworben. Dass Google den Wissensschatz der Menschheit hortet, heißt noch nicht, dass wir über ihn verfügen. Wer die aufgereihten Informationen liest, die Wikipedia in seinen tastenden Formulierungen feilbietet, hat noch kein Wissen verinnerlicht. Immerhin glaubt heute niemand mehr – wie noch zur Jahrtausendwende – dass mit dem Internet die Schulen überflüssig werden würden.
Die Auszeichnung erfolgt zu einem interessanten Zeitpunkt. Denn inzwischen weicht die Skepsis gegenüber den digitalen Errungenschaften pragmatischen Haltungen, mit denen sich ein Widerstand gegenüber den Machtbastionen der amerikanischen Konzerne organisieren lässt, die heute weltweit die Kommunikation kontrollieren. Laniers Überlegung, dass die Ausbeutung der unentgeltlichen Arbeit von Wissenschaftlern und Autoren letztlich dazu führt, dass der Wissensquell verödet, ist nicht neu. Aber sie stellt im Zusammenhang mit der Forderung, Nutzer sollten für die Verwendung ihrer Daten einen Betrag erhalten, ein Statement dar, das vom Börsenverein nicht besser hätte formuliert werden können. Mit seinen Dreadlocks, den publikumswirksamen Auftritten als Musiker neben Ornette Coleman und Yoko Ono wird mit Jaron Lanier nicht nur ein Kontrahent der Open-Source-Bewegung bekränzt, sondern auch ein populäres Zeichen im Ringen um das Freihandelsabkommen gesetzt, bei dem die Stimme des Börsenvereins von der Politik überhört zu werden droht.
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