Mit diesem vernichtenden Urteil zur Uraufführung im Jahr 1909 verkannte ein Musikkritiker Richard Strauss’ späteren Welterfolg „Elektra“. Andere beschimpften den Meilenstein in der Musikgeschichte als eine „wahre Hässlichkeitsorgie“. Doch Strauss reagierte bajuwarisch gelassen: „Wenn auf der Bühne eine Mutter erschlagen wird, kann ich doch im Orchester kein Violinkonzert schreiben.“
Eine Königsfamilie schlachtet sich ab: Im Zentrum des Geschehens steht die Königstochter Elektra, die den Mord an ihrem über alles geliebten Vater Agamemnon rächen will, den ihre Mutter gemeinsam mit ihrem Liebhaber begangen hat. Sie selbst hütet die Mordwaffe und erwartet sehnlichst die Rückkehr ihres Bruders, damit er mit der Axt die Untat blutig richtet, zu der sie selbst nicht fähig ist. Als Außenseiterin lebt sie vor den Mauern des Palastes, voller Hass auf die dekadente Hofgesellschaft von Mykene führt sie ein Leben der Selbstverleugnung und Zerrissenheit. Am Ende überreicht sie ihrem Bruder das Beil und feiert die Rache als grandiosen Triumph in einem ekstatischen Tanz.
„Sie ist eine Prophetin ohne Prophezeiung“, schreibt Hugo von Hofmannsthal, der Librettist, über die Protagonistin. In seiner psychologisierenden Bearbeitung des Elektra-Stoffes für die Oper zeichnet Hofmannsthal die Zerfallserscheinungen der Gesellschaft um die Jahrhundertwende nach, wie er sie schon in seinem berühmten Chandos-Brief aus dem Jahr 1902 beschrieben hat: Der Sinn- und Werteverlust und das Fehlen einer ganzheitlichen Weltauffassung führt zu einem Identitätsverlust und Auseinanderfallen der Existenz. Das Gefühl der Leere wird zum bestimmenden Lebensgefühl.
Die psychische Deformation Elektras weist eine Parallele zu Freuds Fallstudie der Anna O. auf, einer Frau, die den Tod des Vaters als Trauma erlebt – mit der Folge, dass sie kein Leben als eigenständige Person mehr führen kann: Hysterische und euphorische Zustände wechseln mit Phasen der Verzweiflung. Seitdem ist der Elektrakomplex zum Synonym für die krankhaft übersteigerte Liebe einer Tochter zu ihrem Vater geworden, die ihre Entsprechung im männlichen Ödipuskomplex findet.
Der Persönlichkeitszerfall Elektras und ihrer von schlechten Träumen verfolgten Mutter drückt sich in den verstörenden Sprachbildern Hofmannsthals aus, die eine Entsprechung in der hochexpressiven Musik Strauss’ finden, die er für ein über hundert Mann starkes Orchester komponierte. Der Komponist erweitert die Tonalität in „unerhörter“ Weise und stößt an die Grenze zur Atonalität, die die Hörgewohnheit und das Antikenverständnis des wilhelminischen Publikums sprengt: Hier geht es nicht um klassische Ideale, sondern um die Darstellung psychischen Zerfalls in einem ausweglosen Kreislauf von Verrohung und Gewalt. Doch so modern und progressiv wie in diesem Werk wird Strauss in seinen noch folgenden zwölf Opern nie mehr sein: Den Schritt in die Atonalität und Zwölftonmusik überließ er Arnold Schönberg und der zweiten Wiener Schule.
„Elektra“ I 22.(P)/25./28./30.9, 4./7.10. I Deutsche Oper am Rhein
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