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Warme Küche vom Restaurant zum Kunden
Foto: KaiPilger / Creative Commons CC0

Das rote Pedal

17. September 2018

Fahrradkuriere: Anlieferungsluxus mit sozialen Kosten (Teil 2) – Spezial 09/18

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Kult Kiosk 1 in der Körnerstraße, Ehrenfeld. Es ist Freitag, die Temperaturen in ihrer idealsten Lage, der Fahrradkurier Orry Mittenmayer verspätet sich etwas und erscheint in einer orangefarbenen Tunika, die solch einen Frohsinn ausstrahlt, dass die Wartezeit vergessen ist: „Entschuldige, ich war so in den E-Mails vertieft, dass ich die Kalendererinnerung überhört habe.“ Gemeinsam mit den Mitbegründern Sarah Jochmann und Keno Böhme war er zwei Tage zuvor in Berlin bei der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO), um über die Zukunft der Arbeit zu sprechen. Es sind Hunderte von Mails und Nachrichten, die nun bearbeitet werden müssen. Doch zunächst erzählt er mir bei Kaffee auf der Kioskbank wie alles angefangen hat: „Deliveroo hat so aggressiv expandiert, dass klar war, der Mensch steht auf der Prioritätenliste ganz unten. So kam es, dass wir eine Betriebsvollversammlung organisiert haben, trotz des starken Widerstands.“ Der sah so aus: Deliveroo verlegt die Versammlung an den Rand Kölns, für 9 Uhr morgens, und tätigt einen Drohanruf bei Mitinitiator Keno Böhme.

Das war im Dezember. Um ihren Kampf für bessere Bedingungen zu stärken, lassen die Initiatoren sich von Deliveroo inspirieren: starke Social-Media-Kampagnen. Die Organisation „Liefern am Limit“ geht am 2. Februar online und erhält Unterstützung der Gewerkschaft Nahrung-Genuss-Gaststätten (NGG), einstimmig wird für einen Betriebsrat gestimmt, Mittenmayer wird dessen Vorsitzender. Zu diesem Zeitpunkt gibt es noch zwei Arbeitsmodelle: Anstellung sowie freiberuflich; die befristeten Angestelltenverträge laufen nicht länger als sechs Monate. Nach einer internen Umfrage seitens Deliveroo wird entschieden, nur noch mit Freiberuflern zu arbeiten. Von den 140 Angestellten hat jedoch niemand diese Umfrage erhalten. Mittenmayers Vertrag läuft im Mai aus.

Weniger Ich – sehr viel Wir

Die von kurzfristigen Aufträgen geprägte „Gig-Economy“ ist ein bedenklicher Teil des Arbeitsmarktes: Unternehmen bewerben ihn mit Flexibilität und Freiheit. In der Realität sind Arbeitnehmer Billiglöhner im eigenen Ein-Personen-Betrieb. Denn Angebot und Nachfrage steigen und die App ist der Boss. Die Gewinne streicht das Unternehmen ein. Freiberuflich zu fahren bedeutet: fünf Euro pro Auslieferung. Die Distanzen lassen streckenweise nur zwei pro Stunde zu – der Algorithmus bestimmt die nächste Order. Es hieße, der Lieferradius sei auf drei Kilometer begrenzt, für Mittenmayer „Wunschdenken, meistens sind es fünf, sechs Kilometer“.

„Als ich noch in Vollzeit gefahren bin, waren das in einer Woche über 60 Stunden und täglich an die 130 Kilometer. Die Tour de France könnten wir alle bestimmt auch fahren“, erinnert sich Orry Mittenmayer. „Ich war zum Beispiel in Nippes und musste zum Chlodwigplatz, das Restaurant hatte das Essen allerdings noch nicht zubereitet, also konnte ich gar nichts machen. Das Essen sollte dann nach Bayenthal. Noch mal 15 bis 20 Minuten Fahrzeit. Also habe ich in einer Stunde nur diese Bestellung geschafft, da kann man sich ausrechnen, wie mies das für einen freiberuflichen Fahrer wäre.“


Eine Unterstützerin vor dem Kölner Arbeitsgericht
Foto: Du Pham

Obwohl die Kuriere keine Gemeinschaft bilden, ist der Zusammenhalt enorm. „Liefern am Limit“ teilt anonym die Erfahrungen von FahrerInnen auf Facebook. Stellvertretend ist das Einzelschicksal das von allen: Weniger Ich, sehr viel Wir. Es wird Geld für einen Kollegen gesammelt, der nach einem Unfall seine Miete nicht mehr zahlen kann. Es wird dazu aufgerufen, ein kaltes Getränk bei Auslieferung zu spendieren. Aber auch durch die Bekanntmachung von Missständen wie: „Deliveroo kündigt Fahrer, der nach schwerem Unfall die firmeneigene Versicherung in Anspruch nehmen wollte“, und Erfolgen wie: „Foodora streicht Mindeststunden“, zeigt sich, dass die Arbeit von „Liefern am Limit“ wichtig ist. Dabei verzichten sie auf einen erhobenen Zeigefinger und stehen mit der Community in Kontakt. In vielen Kommentaren macht sich eine Boykottstimmung breit. So nachvollziehbar auch diese ist, wäre sie kontraproduktiv für die FahrerInnen: „Einen Boykott unterstützen sowohl wir als auch die NGG nicht. Wir wollen unsere Jobs besser machen, nicht kaputt.“

Neben Lieferando arbeitet auch foodora „ausschließlich in regulären, sozialversicherungspflichtigen Anstellungsverhältnissen“, so Firmensprecher Vincent  Pfeifer. „Jeden Tag arbeiten wir eng mit unseren Kollegen auf dem Rad, als auch mit unseren Betriebsräten zusammen, um den Job als Rider weiter attraktiv zu machen. Unsere Rider werden über dem Mindestlohn bezahlt und sind überwiegend zufrieden in ihrem Job.“

Probleme gemeinsam angehen

Mittenmayer wird immer wieder angesprochen, man kennt sich hier im Viertel. Zwischendurch gibt es ein Kompliment für seine Tunika. Wir rechnen: Selbst bei einem Angestelltenverhältnis mit 9,50 Euro die Stunde ist am Ende des Monats nicht viel übrig. Mittenmayer lebt in einer WG, die Miete für Kölner Verhältnisse nicht hoch, dazu kommen Arbeitskleidung, ein guter Handyvertrag mit viel Datenvolumen und „wenn man sehr regelmäßig fährt, hat man auch einen entsprechenden Verschleiß, vor allem beim Fahrrad“.

Ein Sonntag in der Südstadt, der Sommer hat angeklopft, viele trauen sich wieder aufs Fahrrad. Ich habe einen Rennkompressor bei mir, ein foodora-Fahrer fragt, ob er ihn nutzen dürfe und erzählt: „Es gibt Partner-Werkstätten, wo ich das Rad kostenlos warten lassen kann beziehungsweise foodora die Rechnung übernimmt. Groteskerweise gibt es in Köln keine und ich habe kein Geld, das Fahrrad in einer Werkstatt herrichten zu lassen.“

Auch hier organisieren sich die FahrerInnen selbst, wie Mittenmayer erzählt: „Wir planen mit der NGG Repaircafés in Köln, wo sich die FahrerInnen gegenseitig beim Reparieren und Warten der Fahrräder unterstützen können. Gerade für neue FahrerInnen ist das gut, die vielleicht nicht wissen, wie man einen Schlauch wechselt.“ Das Zusammenkommen hat für „Liefern am Limit“ auch den Vorteil, dass „die FahrerInnen merken, wofür eine Gewerkschaft gut ist und wir weitere Menschen rekrutieren können für die Arbeit. Und Zusammenhalt schaffen.“

Es darf hier dennoch nicht außer Acht gelassen werden, dass, egal in welchem Gewerbe freiberuflich gearbeitet wird, die benötigten Arbeitsutensilien selbst gestellt werden, sei es im Handwerk mit eigenem Werkzeug oder in der Medienbranche mit einem leistungsstarken Rechner. Berufsfelder, die eine Fachausbildung voraussetzen, werden eher entsprechend entlohnt als im niederschwelligeren Segment. Es gibt kaum Einstiegshürden, Bewerbungen laufen über ein Onlineformular – wie Mittenmayer berichtet, konnte er bereits nach zwei Tagen seine erste Fahrt tätigen – für viele FahrerInnen ist genau das verlockend. Dennoch ist es alles andere als das schnelle Geld. Und darum ist eben vor allem hier wichtig, die ArbeiterInnen vor Ausbeutung zu schützen.

Die Lücken der Plattformökonomie

Durch Auslauf der Verträge gibt es keinen Betriebsrat mehr bei Deliveroo Köln – für Mittenmayer dennoch ein großer Erfolg: „Durch das Zusammenkommen unserer Arbeit mit der NGG, der Berichterstattung der Presse sowie Kritik seitens der Konsumenten, hat sich Deliveroo aus zehn Städten zurückgezogen. Auch wenn sie es nicht so benennen würden: Sie haben auch einfach keine FahrerInnen mehr bekommen.“ Mittlerweile gibt es nur noch bei Foodora Betriebsräte (Köln, Hamburg).

Vincent Pfeifer bedauert, dass „foodora unbegründeterweise immer wieder im Zuge der negativen Berichterstattung zu den katastrophalen Arbeitsbedingungen wie Scheinselbstständigkeit oder ausbleibenden Lohnzahlungen oder fehlenden Versicherungen bei unserem Mitbewerber genannt wird.“ Doch Mittenmayer verrät, dass foodora die Gründung eines Betriebsrat in Münster anzufechten versucht, denn es gibt sie, die Lücken, und das ist ein großes Problem der Plattformökonomie:

„Es gibt nur ein Liefergebiet und keine Betriebsstätte“, erklärt Mittenmayer, „der Arbeitsplatz ist oft nur das eigene Zimmer, und wenn du Kurier bist die ganze Stadt. Argumentiert wird dann mit: ‚Wenn es keine Betriebsstätte gibt, braucht es auch keinen Betriebsrat.‘ Und deswegen ist es so wichtig, dass die Rechtsprechung und Politik reagiert. Dass nicht erst Jahre vergeudet werden, um darüber zu sprechen. Sondern reagiert wird, bevor prekäre Arbeitsverhältnisse wieder zur Normalität werden.“

Mittwoch, Arbeitsgericht, Saal fünf ist klein und schnell belegt, UnterstützerInnen sind gekommen, an diesem Tag hat Mittenmayer seinen Gütetermin: Er will weiterhin als Fahrradkurier tätig sein und seine Funktion als gewählter Betriebsratsvorsitzender wahrnehmen. Es kommt zu keiner Einigung, was Deliveroos Vertretung Schmitz-Klie wundert: „Ich habe gelesen, dass Sie studieren wollen. Und da wäre das Vergleichsangebot doch eine gute Hilfe.“

Ein Angebot bestehend aus einem nachträglichen Monatsbruttolohn von 1090 Euro, einem wohlwollenden Zeugnis sowie einer Schweigeklausel. Im Dezember findet die nächste Verhandlung statt. Mittenmayer: „Der Kampf geht weiter!“

Du Pham

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