Kann man Vertrauen sehen? Ja, beim Tanzen wird es körperlich wahrnehmbar. Seit zehn Jahren demonstrieren Tim Behren und Florian Patschovsky auf der Bühne, was es heißt, sich blind aufeinander verlassen zu können. Es ist ein Genuss, die beiden in der Dramatik ihrer Choreografien beobachten zu können. Manchmal stehen sie nur im Raum und sogleich wird eine geheimnisvolle Energie der körperlichen Aura spürbar. Ausgebildet wurden sie als Akrobatenduo Overhead Project an der Brüsseler Zirkushochschule Ecole Superieure des Arts du Cirque. Die beiden sind nicht klein gewachsen, schon deshalb besitzen ihre Produktionen einen eigenen Look, in dem Sensibilität ein selbstverständlicher Bestandteil von Männlichkeit ist. Das ist den internationalen Jurys nicht entgangen, so dass Overhead Project die Tanzpreise der Städte Köln, Stuttgart, Bern, Budapest und Jerusalem gewann.
„My Body is Your Body“ lautet der Titel der neuen Choreographie von, die jetzt in der Studiobühne Köln ihre Premiere erlebte. Diesmal tanzen nicht Behren und Patschovsky sondern der Chilene Leonardo Garcia, die Süd-Koreanerin Mijin Kim und der Belgier Leon Börgens. Der Titel ist aber zugleich Programm. Die drei tragen Oberhemd und zweiteilige Anzüge, Uniformität bleibt oberstes Gebot. Dann legen sie Hemd und Jacke ab, nun sind sie immer noch gleich und sind es doch keineswegs. Hier die muskulösen Oberkörper der Männer, dort die zarte Brust der Frau. Formale Gleichheit betont die Unterschiede von Charakter und Geschlecht. Die Choreografie von Tim Behren demonstriert, wie ein Körper für den anderen einsteht. Der Mann trägt die Frau, die Frau trägt den Mann. Es gibt zahlreiche Aktionen, die auf den Schultern und über Kopf abgewickelt werden. Oftmals mit dem weichen Schwung der Akrobaten, der dieser Produktion seinen Rhythmus und seinen Ernst verleiht.
Die Erotik der Gleichheit oder sollte man besser sagen, des Unterschieds, setzt sich im Raumkonzept fort. Overhead Project hatte sich schon in seiner letzten Produktion „Surround“ mit dem Kreis als demokratischer Struktur beschäftigt. Ein in der Luft schwingendes Turnpferd stellte ein physisches Gefahrenpotenzial dar, das unter Anleitung der Künstler vom Publikum behutsam bewältigt wird. Nun sind die Zuschauertribühnen rechts und links errichtet und das tanzende Trio agiert wie im Englischen Parlament im Korridor der beiden Linien. Die Architektur der Demokratie wird implantiert. Es begegnen sich sowohl die Blicke der Besucher als auch die der Künstler. Vor allem Mijin Kim sucht trocken und selbstbewusst die Konfrontation der Augenblicke mit dem Publikum. Das verleiht den Aktionen Würde und lässt die Präsenz des entblößten Körpers bewusst werden. Es ist diese Klarheit im Ausdruck, die sich in den wunderbar präzise getanzten Bewegungspassagen spiegelt und dieser Produktion ihren sinnlichen Erkenntnisgehalt verleiht.
Zu sehen ist „My Body is Your Body“ am 3. November in der Fabrik Heeder in Krefeld.
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