Anfang Februar einigten sich Union und SPD nach langen Verhandlungen auf einen Gesetzentwurf zur Reform des umstrittenen Paragrafen 219a des Strafgesetzbuchs. Die Vorschrift, die Werbung für Schwangerschaftsabbrüche verbietet, soll nun ergänzt statt abgeschafft werden. Es ist ein klassischer Kompromiss. Also alles gut?
Mitnichten. Zwar ist es begrüßenswert, dass ungewollt schwangere Frauen in Zukunft Listen mit Praxen und Ärzten von der Bundesärztekammer und der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung beziehen können, statt bei der Internetrecherche auf Seiten sogenannter Lebensschützer wie babycaust.de zu landen. Dort werden bis heute Praxen und Ärzte, die Abtreibungen vornehmen an einen digitalen Pranger gestellt und mit Holocaust- und Nazivergleichen in den Dreck gezogen. Für Frauen in einer Ausnahmesituation, ist dies ein unhaltbarer Zustand, der nun hoffentlich beseitigt ist. Insofern wäre die vom Kabinett beschlossene Änderung, die allerdings noch durch‘s Parlament muss, zumindest ein kleiner zivilisatorischer Fortschritt. Doch es gibt Haare in der Suppe. Auch zuvor war es neutralen Stellen wie der Bundesärztekammer und der Bundeszentrale erlaubt, Frauen mit den genannten Infos zu versorgen. Und wie niederschwellig sie zukünftig zu haben sind, ist noch nicht klar.
Mehr als fraglich ist das Frauenbild, das hinter 219a steht. Die Annahme, eine Frau könne sich aufgrund von Werbung für einen Schwangerschaftsabbruch entscheiden, verkennt nicht nur die Situation ungewollt schwangerer Frauen, sie spricht ihnen zudem die Fähigkeit ab, eigenständig zu denken. Eine Unterstellung, die die Würde einer jeden Frau verletzt. Nur noch absurd ist die Annahme, Frauen seien Informationen von Ärzten über einen Schwangerschaftsabbruch nicht zumutbar, weil sie dann zu einem Abbruch verleitet würden. Das ist auf dem Niveau von Gesundheitsminister Jens Spahn (CDU), der einst meinte, die „Pille danach“ dürfe nicht rezeptfrei werden, damit junge Frauen sie sich nicht „wie Smarties“ konsumieren können.
Noch im Dezember wurde in einem Eckpunktepapier zur 219a-Neufassung der Bundesregierung eine Studie vorgesehen, die Informationen zu den „seelischen Folgen von Schwangerschaftsabbrüchen“ gewinnen sollte. Doch viele solche Studien gibt es bereits. Demnach verspüren Frauen vor und unmittelbar nach der Entscheidung für einen Abbruch – wen wundert’s? – starke Leiden. Eine Studie der University of California, die 2015 667 Frauen drei Jahre nach einem Schwangerschaftsabbruch erneut befragte, kam zu folgendem Ergebnis: 95 Prozent gaben an, die richtige Entscheidung getroffen zu haben.
Der Geist, der hinter dem Gesetzentwurf in seiner gegenwärtigen Form, steht, wurde von SPD-Europaparlamentarierin Maria Noichl im Interview mit der Süddeutschen Zeitung auf den Punkt gebracht: „Letztendlich geht es um die Entmachtung der Frauen.“ Der Gesetzentwurf ist ein neuerlicher Beweis dafür, dass der öffentliche Diskurs sich nach rechts verschiebt. Das wird auch dadurch verdeutlicht, dass mehr Staatsanwaltschaften bereit sind, die entsprechende Strafverfolgung – bis zu zwei Jahre Knast stehen auf einen Verstoß gegen 219a – aufzunehmen, wie der hinlänglich bekannte Fall der Gießener Ärztin Kristina Hänel zeigt.
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Aktiv im Thema
donumvitae-koeln.de | donum vitae in Köln ist eine staatlich anerkannte Beratungsstelle für Frauen im Schwangerschaftskonflikt.
frauenleben.org | Die Kölner Beratungsstelle bietet Beratung z.B. zu sexualisierter und häuslicher Gewalt.
gesetze-im-internet.de | Die Paragraphen 218+219 im Netz – hier kann man nachlesen, worüber gestritten wird.
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