Die Oper als Spiegel unerfüllter bürgerlicher Sehnsucht: Eine junge Frau, meist Sopran, flieht in die Arme eines jugendlichen Liebhabers, meist Tenor, um der unerfüllten Ehe und ihren gesellschaftlichen Zwängen zu entkommen. Die Stimmfächer untermauern die klassische Dreieckskonstellation, die die Dramaturgie unzähliger Opernhandlungen des 19. Jahrhunderts bestimmt: Ein strahlender Tenor und ein leuchtender Sopran finden liebend zusammen, ein Bariton oder, in selteneren Fällen, ein seriöser Bass bereitet ihrem Liebesglück ein rasches Ende − die Liebenden bezahlen mit ihrem Leben dafür. Im voranschreitenden 19. Jahrhundert wird die Oper immer mehr zu einem Sehnsuchtsort nicht ausgelebter, tabuisierter Gefühle: Die Liebe wird als Utopie der Entgrenzung und Befreiung des Menschen gefeiert, in der gesellschaftliche Zwänge und Selbstentfremdungstendenzen überwunden werden, bis die Realität die Verliebten einholt. Am Ende stehen das Scheitern und der Tod.
1854 bestimmt Resignation das Leben Richard Wagners: Seine erste Ehe droht zu scheitern. Otto Wesendonck, ein wohlhabender Kaufmann, unterstützt den mittellosen Komponisten, der sich in die Frau seines Mäzens verliebt. Seine Gefühle werden erwidert, wenn auch nicht erhört, und beide sehen ihre ausweglose Situation in dem mittelalterlichen Epos von Tristan und Isolde widergespiegelt. Im Herbst 1854 fasst Wagner den Plan, den Stoff zu vertonen.
Tristan und Isoldes Liebe ist von Anfang an untrennbar mit dem Tod verbunden. Tristan erschlägt im Kampf den Verlobten Isoldes. Sie will sich rächen, doch Tristans liebender Blick erweckt auch ihre Gefühle, sie heilt seine Wunden. Tristan verrät ihre Liebe und führt die irische Königstochter als Kriegsbeute und Braut seinem Dienstherrn Marke zu, dem König von England. Auf der Überfahrt stellt sie ihn zur Rede, sie reicht ihm den Todestrank und nimmt selbst die Hälfte davon. Im Angesicht des nahen Endes gestehen sich beide ihre Liebe. Bald stellt sich heraus, dass es kein Gift, sondern der Liebestrank war, der sie nun unlösbar aneinander bindet. Die Bereitschaft gemeinsam zu sterben ermöglicht das verzweifelte Geständnis ihrer hoffnungslosen Liebe, nicht die zauberischen Kräfte eines Aphrodisiakums. „Die Liebe als furchtbare Qual“ (Wagner) wird zum zentralen Thema dieses Musikdramas. Tristan und Isolde entsagen ihrer Liebe und damit dem Willen zu Leben, um im Tod Erlösung zu finden. Ihr Liebestod erlöst sie am Ende von einem falschen Leben, ist Weltentsagung und Verklärung zugleich. Wagners Musikdrama ist von der Philosophie Schopenhauers beeinflusst, die wiederum stark auf den Buddhismus zurückgeht. Daher auch die Wahl des Ruhrtriennale-Intendanten Willy Decker auf diese Oper als Eröffnungsstück, ist doch der Buddhismus das Leitthema in diesem Jahr.
Die Zurücknahme der äußeren Handlung bis zum Stillstand hat eine Entfaltung und Selbstständigkeit der Orchestersprache zur Folge wie in keinem anderen Werk Wagners. Die Sehnsucht Tristans und Isoldes nach Entgrenzung findet in der völlig neuen Behandlung der Stimmen ihren Ausdruck: Die „unendliche Melodie“ hebt die Trennung einzelner in sich geschlossener Gesangslinien auf und verschmilzt sie zu einem nicht endenden Melodiestrom. Mit Tristan und Isolde überwindet Wagner nicht nur eine persönliche Lebenskrise, sondern wird zu einem Wegbereiter der musikalischen Moderne.
„Tristan und Isolde“ von Richard Wagner I R: Willy Decker
Jahrhunderthalle Bochum I Sa 27.8. (P), Mi 31.8. je 18.30 Uhr I weitere Aufführungen im September I 0 700 20 02 34 56
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