Im Jahr 2022 waren laut Statistischem Bundesamt etwa 20,9 Millionen Menschen in Deutschland von Armut oder sozialer Ausgrenzung bedroht. Das Thema ist nicht neu – seit langem sind Vermögen und Einkommen in der Bundesrepublik sehr ungleich verteilt. In den letzten Jahren führten jedoch auch die Corona-Pandemie und der Ukraine-Krieg für zunehmende Geldsorgen bei den Bürgern, z.B. durch den enormen Anstieg der Lebenshaltungskosten. Im Zuge dessen ist die nach wie vor tabuisierte und schambehaftete Armut in den Fokus der Öffentlichkeit gerückt.
Christopher Smith Ochoa, Sozialwissenschaftler und wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität Duisburg-Essen, befasst sich in seinem Arbeitsbereich schwerpunktmäßig mit Ungleichheit, Sozialpolitik, interpretativer Politik- sowie Diskurs- und Narrativforschung. Er setzt sich unter anderem damit auseinander, inwiefern gerade etablierte Erzählungen mit dazu beitragen, dass Ungleichheit innerhalb der Bevölkerung trivialisiert wird. Als Beispiel nennt er in diesem Kontext ein bekanntes Sprichwort: „Jeder ist seines Glückes Schmied“. Dieses verspreche Aufstieg durch eigene Bemühungen und sorge deshalb dafür, dass soziale Phänomene wie Armut und Ungleichheit individualisiert würden. „Die Erzählung blendet oft die fundamental unterschiedlichen Ausgangspositionen diverser Bevölkerungsgruppen und Individuen aus und führt auf dieser legitimatorischen Basis zu einer Normalisierung der Problemlagen“, sagt Ochoa. Zudem merkt er an, dass die Armutsdiskussion in Deutschland tendenziell auf einer abstrakten, zahlenfixierten Ebene ablaufe. Auch wenn die Auseinandersetzung mit Statistik notwendig und wichtig sei, würden die Alltagserfahrungen der Betroffenen in diesem Kontext häufig ignoriert. Die Lösung liegt für ihn darin, mehr diskursive und politische Teilhabe zu ermöglichen: „Es müssten neue kommunikative Räume in Politik, Medien und Zivilgesellschaft entstehen, damit armutsbetroffene Menschen als Expert:innen in eigener Sache regelmäßig zu Wort kommen und in zentralen Entscheidungsfindungsprozessen stärker berücksichtigt werden können.“
Leider habe die Debatte um das Bürgergeld letztes Jahr eindeutig gezeigt, dass es der Politik schwerfalle, substanzielle Maßnahmen im Sinne der Betroffenen durchzusetzen. Dennoch nimmt er auch positive Entwicklungen in der Debatte zur Kenntnis: Die solidarische Bewegung #IchBinArmutsbetroffen fordere zum Beispiel die zuvor erwähnte Leistungserzählung tagtäglich heraus – durch Aufklärungsarbeit und persönliche Schilderungen, die auf strukturelle Probleme hinweisen. Diese Entwicklung stelle ein wichtiges Novum im deutschen Armutsdiskurs dar.
Neue Erzählungen von Solidarität? | Mi 22.11. 18.30 Uhr | VHS Studienhaus am Neumarkt | vhs-koeln.de
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