„Palm Springs represents all that was good about my childhood and each time I breathe that clean desert air, the wonderful sense memories take me back to a better place where the cares of the day move into the shadows and fade to nothing. I have a simple life there with family and good friends. I love it.“
Nancy Sinatra
„The Good Life – Palm Springs“ [Kehrer]: Beim ersten Anblick von Nancy Barons Fotografien schnürt sich mir die Kehle zu. Die zuweilen geradezu hemmungslos entarteten Geschmacklosigkeiten der Bewohner dieses Sinnbilds des American Dreams wirken nicht zuletzt in der grandiosen Wüsten- und Berglandschaft irgendwie… pervers. Mädchenkleider und Altersflecken. Ein kleinkariertes Karojackett farblich perfekt abgestimmt auf den roten Cabrioschlitten mit weißen Breitwandreifen. Ein übermenschlicher Atlas mit der Welt auf seinen Schultern vor der Gartencocktailbar. Wer es sich mal eben leisten kann, seine Eingangshalle bis zur Decke mit Raubkatzenvelours auszukleiden, dem braucht nichts peinlich zu sein. Anything goes. Eine Oase für jede (Form von) Kindheit.
Da sieht die Welt von Skunk Cunningham ganz anders aus. Und wir reden hier nicht von irgendwelchen längst abgekapselten Ghettos, sondern von einer stinknormalen englischen Vorstadt, in der sich das Bürgertum (u.a. in Gestalt von Skunks Vater, einem alleinerziehenden Anwalt) und soziale Randfiguren (wie die mit Gewalt „ihr Recht“ einfordernde Oswald-Familie) unvereinbar gegenüberstehen. Ohnmächtig – vergleichbar der im Koma liegenden 11-jährigen Erzählerin – wird der Leser Zeuge, wie sich „Die Bewohner von Drummond Square“ [Kein & Aber] in rechtschaffener Tatenlosigkeit versus asozialer Wut selber den Garaus bereiten. So liebenswürdig Daniel Clays Protagonisten zum Teil auch rüberkommen, so schonungslos stellt sich das Versagen der Erwachsenen im Rahmen ihres eigenhändig zementierten gesellschaftlichen Systems dar. Eine gewollt behütete Kindheit ist nicht mehr als eine gewollt behütete.
Und unsereiner?! Versuche ich als Vater nicht auch ständig, die Welt als Paradies auf Erden zu verkaufen: natürlich „politisch korrekt“, durch die rosarote Brille Kopf und Herz auf Gleichklang trimmend? … Und dann bekomme ich nebenbei mit, wie meine 7-jährige Tochter ihrer Freundin im Angesicht von Gillian G. Gaars „Treasures of Nirvana“ [Carlton] völlig selbstverständlich erklärt, dass sich Kurt Cobain das Leben genommen hat, weil er die Welt einfach nur noch scheiße fand. Mal abgesehen davon, dass ihre Spielgefährtin sich bis dato nicht mal vorstellen konnte, dass der Mensch die Fähigkeit zum Selbstmord besitzt, schaudert mich die Quintessenz, die sich unser Kind zusammengereimt haben muss, als meine Frau und ich in jugendlicher Verklärung durch die diversen Memorabilien der Box – vom Reprint des Flyers zu ihrem fünften U.K.-Konzert im Jahre 89 bis hin zum Retroposter – gepflügt sind. Yep, K.C. war unser J.C. – und eine Zweitklässlerin tanzt selbstvergessen zur „Moritat von Mackie Messer“.
Abends werfe ich Nirvanas „In Utero“ an, stürze mich zurück in meine Vergangenheit. Roher Pathos und triefende Melancholie, Selbstverliebtheit und Selbstmitleid gehen nahtlos ineinander über. Irgendwo hier liegt meine Identität vergraben. Mir fällt Fabian Hischmanns Debütroman in die Hände. Sein Protagonist: ein echter Prototyp, weder Winner, noch Loser, behütete Kindheit samt gängiger pubertärer Nackenlaschen. In Kontrast dazu: eine traumatische Gewalterfahrung. Klingt konstruiert und entwickelt doch einen eigentümlichen Sog, der nicht nur auf das galoppierende Stakkato der Story zurückzuführen ist. „Am Ende schmeißen wir mit Gold“ [Berlin] ist die bemerkenswerte Variante eines Coming-of-Age-Romans – vom Erwachsenwerden, indem man sich als vermeintlicher Erwachsener bewusst noch mal seiner Entwicklung stellt. Aus diesem Blickwinkel verwandelt sich auch Nancy Barons psychotisch-paradiesisches „Palm Springs“ in einen Ort, den man einfach lieben muss.
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