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Zurück aus’m Urlaub

30. August 2012

Wortwahl 09/12

Er ist aufgebrochen zu Reisen in ferne Länder.

Das Fernste ist das Ich.

Frank Göhre „Wenn das Befragen ein Ende hat“

Als sich Charlie und Eli Sisters 1851 von Oregon nach Kalifornien aufmachen, ist Reisen noch kein Volkssport, sondern im besten Falle ein Arbeitsauftrag. Glücksritter, Goldschürfer oder einfach nur ums nackte Überleben kämpfende Siedler auf der Suche nach einer erklecklichen Existenz befinden sich zwangsweise auf ihrem Track ins Land, wo die Orangen blühen. Mittenmang „Die Sisters Brothers“ (Manhattan), die auf ihre Weise erkannt haben, dass „das ganz große Geld gar nicht mit Gold zu machen (ist), sondern mit denen, die danach suchen“ – als Auftragskiller. Doch Patrick deWitts Wild-West-Parforceritt ist mehr als nur eine satirische Groteske, in der ein kongeniales Psychopathenduo Gier und Idotie fürstlich mit dem schnellen Tod entlohnt. Während Charlie scheinbar mit jedem Schuss nach Auslöschung seiner Vergangenheit trachtet, verfolgt ihn sein tumber Bruder auf der gebrechlichen Mähre seines zweifelnden Geistes. Eli hat seine eigene Reise angetreten, mitten rein ins Ich, das Außen als unerbittlicher Spiegel, an deren Ende nur die Eigenständigkeit oder der Tod stehen kann.

Eine Auseinandersetzung, der sich auch „Lola Bensky“ (Suhrkamp) zu stellen hat. Von der Statur her dem untersetzten Eli Sisters nicht unähnlich verdingt sich Lily Bretts Protagonistin ebenfalls fern der Heimat als Freelancerin – allerdings als Musikjournalistin in den Hipster-Domänen der Sixties, London und N.Y. Bereits im ersten Interview des Romans offenbart sich dabei ihr ganzes Dilemma. Einerseits fürchtet sie, dass sich die Taschentücher, die sie sich zum Schutz vor Schürfwunden in die Netzstrumpfhosen zwischen die Schenkel geklemmt hat, in weiße Flöckchen auflösen. Andererseits scheint ein lasziver Bühnenvirtuose wie Jimi Hendrix im Gespräch über die Last der eigenen Kindheit sämtlichen Sexappeal zu verlieren. Und trotzdem hat dieser Gitarrengott etwas gefunden, nach dem sie noch lange suchen wird: den Glauben an sich selbst. Doch selbst 200 Seiten später findet sie in Janis Joplins Einsamkeit nur eine Ahnung eines einsamen Ichs wieder, das sie zu verstehen sucht, aber nicht spürt.

Wohin das (auch) führen kann, inszenierte kein Autor grandioser als Jim Thompson. Mit einem unermesslichen, „weiß Gott“ sensiblen Kämpferherzen steuern sämtliche seiner Figuren konsequent „In die finstere Nacht“ (Heyne). Für sie gibt es keine glückliche Fügung im Clinch mit ihren Dämonen. Es schwelt und gährt. Doch jeder Versuch des verzweifelten Entrinnens oder der wutentbrannten Auflehnung bringt sie nur dem Blutbad näher. Einer seiner genialsten Romane: jener Noir, in dem sich der kleinwüchsige, todkranke Killer Carl Bigelow parallel zu seiner aufkeimenden Paranoia in die obsessive Hassliebe zu der missgebildeten Ruth stürzt. Mitreißend düster und morbide, ein pathologischer Anti-Helden-Rausch – der sich nicht zuletzt im schonungslosen Leben des Autors widerspiegelt: mit 19 bereits Alkoholiker als Schmuggler für Al Capone, später Drehbuchautor für Stanley Kubrick, schließlich vereinsamt, verarmt, dem Tode geweiht, als seine Werke, u.a. mit der Verfilmung von „The Getaway“ endlich Anerkennung finden.

Von Verbitterung ist aber nichts zu lesen. Überleben ist das eine, Schreiben das andere. Es mag kein Glück sein, aber der radikale Sturz in die eigenen Abgründe zeichnet letztlich Literatur aus: die Einsamkeit des Autors, die Haltlosigkeit seiner Protagonisten, das Unverbrüchliche und das Zerbrüchliche im Wechselspiel von Ego und Alter-Ego, von Ich und Sein und Realität – wie es Frank Göhre in seinem Essay über Hubert Fichtes Rückkehr nach Hamburg in „I and I“ (Pendragon) auf den Punkt bringt (s.o.). In dem hartgekochten Stakkatostil, der den Gefühlen freien Lauf lässt, wirft diese Melange aus Reiseerlebnissen und Heldenreminiszenzen unweigerlich die Frage auf: Was hat man eigentlich aus seinem Urlaub mit zurückgebracht. Und woran scheitern wir.

LARS ALBAT

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