Gestern stellten wir fest, dass die Winter immer länger und kälter werden. Heute knallen am anderen Ende der Welt die Atomkraftwerke durch und morgen kann uns die Schuldenkrise den Finanz-Tsunami bescheren. Da wenden wir uns doch angewidert vom Weltgeschehen ab und beschäftigen uns lieber mit dem Glück. Eine beispiellose Welle von Ratgebern zum Thema Glück ergießt sich derzeit über die Medienlandschaft. Im Kino wartet Larissa Trüby mit ihrem Dokumentarfilm „Glücksformeln“ auf, in dem Wissenschaftler und Zivilisten von nebenan erklären, wie man den emotionalen Erfolgs-Coup schlechthin landet.
Ursula von Arx beschreibt, was das ist. „Ein gutes Leben“, so der Titel ihres Buches, das aus „20 Begegnungen mit dem Glück“ besteht. Interessanter als die Glücksrezepte von Leuten wie Mitscherlich, Cohn-Bendit oder Ungerer sind ihre listigen Interviews, die einzigartige Persönlichkeitsporträts entwerfen. Umwerfend liest sich Pauls Guests Bericht „Noch eine Theorie über das Glück“. Der amerikanische Hochschullehrer brach sich mit 12 Jahren bei einem Fahrradunfall den zweiten Halswirbel. Eingesperrt in einem pubertierenden Körper schien seine Lage hoffnungslos und trotzdem gewann Guest die Liebe, den Erfolg und den Zugang zur Kunst. Alles Glück der Welt versucht das „World Book of Happiness“ zwischen zwei Deckel zu packen. Der DuMont Buchverlag präsentiert es unter dem lakonischen Titel „Glück“. Ein fein gestaltetes Buch, dessen Inhalt sich wie eine endlose Power-Point Präsentation ausnimmt.
100 sogenannte Glücksforscher aus aller Welt legen ihre Rezepte vor. Da wird dann das Glück wie ein Muskel trainiert, selbstverständlich gibt es Diäten, oder es gilt ein „günstiges psychologisches Umfeld“ herzustellen. So, so. Glück verschwindet hier hinter den Parolen des positiven Denkens, einer weltumspannenden Ideologie, deren sich eine milliardenschwäre Coaching-Industrie bedient. Obwohl diese seit den achtziger Jahren vor allem in den USA im Wachsen begriffen ist, werden immer noch zwei Drittel aller Anti-Depressiva in den USA konsumiert. Interessant auch, dass glückliche Menschen vor allem dort zuhause sind, wo der Reichtum regiert. Solch ernüchternde Wahrheiten enthüllt die amerikanische Soziologin Barbara Ehrenreich in ihrem Buch „Smile or Die. Wie die Ideologie des positiven Denkens die Welt verdummt“. Sie zeigt, wie der Wunsch nach Glück und Erfolg alle Bemühungen um eine analytische Betrachtung der Wirklichkeit aus dem Feld schlägt und dem magischen Denken Tür und Tor öffnet. Wer trotzdem arbeitslos oder krank wird, der hat halt nicht fest genug an das Gute geglaubt, selber Schuld. So einfach ist das, weil Wut und Trauer „negativ“ sind, soll doch jeder selbst damit klar kommen. Ehrenreich erinnert daran, dass vor der Finanzkrise keiner die „negativen“ Gedanken eines Zusammenbruchs publik machen wollte, positives Denken hatte die Herrschaft über die Märkte übernommen. Ja, von einem Wolkenkuckucksheim zu träumen ist okay, nur wenn man in ihm wohnen will, dann kann es kritisch werden. Seriös verläuft die Auseinandersetzung mit dem Glück bei Francesco und Luca Cavalli-Sforza, zwei Italienern, die „Vom Glück auf Erden“ philosophieren. Für sie ist das Glück nicht etwas, das gefunden werden kann, sondern, das erfunden werden muss, von jedem Menschen neu. Einen guten Weg dorthin findet man, wenn man sich an die Devise von Mihaly Csikszentmihalyi, dem Erfinder des „Flow“-Begriffs, hält, der dazu rät, sich ganz auf das zu konzentrieren, was man gerade tut, gleich ob man isst, arbeitet oder sich mit jemandem unterhält. Glück als Ergebnis der vollständigen Hingabe an den Moment.
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