Es ist ein Jugendbuch, und die Teenager sollen es lesen. Aber dass Janne Tellers Roman „Nichts – was im Leben wichtig ist“ an Dänemarks Schulen verboten wurde, kann man leicht nachvollziehen. Inzwischen entwickelte sich das nun im Carl Hanser Verlag erschienene Skandalbuch zum internationalen Bestseller, der mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet wurde. Die Jury des Deutschen Jugendliteraturpreises wird sich mit der Frage, ob sie dieses Buch nun empfiehlt oder nicht, auch noch herumschlagen müssen. Teller erzählt eine Geschichte aus der Provinz. Das Leben verstreicht für Agnes, die Erzählerin, und ihre Klassenkameraden im immer gleichen zermürbenden Trott. Bis eines Tages Pierre Anthon, einer ihrer Mitschüler, der Klasse und dem überraschten Lehrer mit den Worten „Nichts bedeutet irgendwas“, die Brocken hinwirft und geht. Pierre Anthon kommt nicht mehr zur Schule und verspottet die anderen dafür, dass sie an ihrem scheinbar sinnlosen Alltag festhalten.
Der Nihilist stellt einen Skandal für die Gemeinschaft dar. Er bohrt an jenem Nerv, der dort bloßliegt, wo Konsum und Alltagsroutine keinen Schutz mehr vor der Frage nach dem Sinn jeglichen Tuns bieten. Die Wut nagt an Agnes und ihren Klassenkameraden. In einer Welt, in der uns gepredigt wird, dass es für alles einen komfortablen Ersatz gibt, hat nichts mehr wirklich Bedeutung. Die Kids finden schnell heraus, dass sich Bedeutsames dort zeigt, wo es Verluste gibt, und zwar persönliche. Jeder muss etwas geben, das wirklich weh tut. Ist es zunächst noch der geliebte Hamster, kommt bald die Forderung nach dem Leben eines Hundes, der Unschuld eines Mädchens oder der körperlichen Verstümmelung. Das Weiterlesen wird darüber selbst für erfahrene Krimileser zur fast unerträglichen Mutprobe.
Janne Teller war ökonomische Beraterin der EU und der UN, bevor sie sich ganz auf ihre Arbeit als Schriftstellerin konzentrierte. Sie kennt unser Wirtschaftssystem, und sie trifft mit ihrem Roman fast zehn Jahre nach seinem Erscheinen in Dänemark genau den wunden Punkt unseres gesellschaftlichen Lebens. Das zeigt sich auch daran, dass sich inzwischen immer mehr Eltern an deutschen Schulen organisieren, um ein Verbot dieser brisanten Schullektüre durchzusetzen. Die Eltern befürchten, dass ihre Kinder auf die gleichen Gedanken kommen könnten, wie Tellers Protagonisten.
Die Wahl, die schon William Faulkner für das Schicksal der Menschen formulierte, sich zu entscheiden zwischen dem Schmerz und dem Nichts, beantworten auch die Teenager in Tellers Roman mit ihrer Entscheidung für ersteren. So bizarr sich die Geschichte entwickeln mag – und Tellers literarische Klasse liegt auch darin, dass sie Spannung erzeugt, weil sie ihre Geschichte mit jedem Schritt weiter zuspitzt – stellen sich die Jugendlichen letztlich doch als Anwalt von Sinn und Bedeutung dar. Ein Credo, das freilich zur Ideologie mutiert und immer bestialischere Konsequenzen nach sich zieht. In jedem Fall liefert „Nichts – was im Leben wichtig ist“ einen literarischen Paukenschlag, der wieder einmal beweist, dass uns die Literatur die Möglichkeit bietet, an den Grundfesten unserer moralischen Ordnung zu rütteln, um festzustellen, wie stabil sie noch ist. Und die Debatte über ein Verbot des Romans wird diesen Disput noch kräftig entfachen.
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