11… 10… 9 … Sie können den Startschuss zum Straßenkarneval kaum mehr erwarten. Schon jetzt wird in Hauseingängen und Toreinfahrten jebützt auf Teufel komm raus, verirren sich Hände hin, wo sie nicht hingehören, setzt da, wo nicht besinnungsloser Durst sämtliche Triebe im Keim ertränkt, ein lodernder Flächenbrand unter der Gürtelschnalle ein. Gut, wir wollen das Gros der seriösen Karnevalisten und närrischen Vollblutprofis unter den Funkemariechen und Lappeclowns, die selbst im Vollmond des Fastelovend das Tier in sich im Zaum halten können, nicht in Sippenhaft nehmen. Und doch findet sich selbst unter ihnen so manch Ehepartner, der merkwürdig verändert aus dem Tollhaus zurückkehrt – ohne es einfach dem Nubbel in die Schuhe schieben zu können. Irgendetwas ist erwacht, hat die Schranken des Alltags durchbrochen, die Ratio außer Kraft gesetzt, um auch im Nachhinein mit Vernunft allein nicht zu begreifen zu sein. Wie konnt' ich nur? …
Und dann geht's einem wie Rudolf Habringers Protagonisten, die sich samt und sonders mit ihren kleinen Geheimnissen durch ihre Beziehungen plagen. Halb so wild, sollte man meinen. Irgendwie haben noch die meisten damit zu leben gelernt. Wäre da nicht dieser Mord an Verenas Mann, der zwar nur entfernt, aber eben doch zu nah mit all den Liebeleien und Abenteuern zu tun hat. Ganz langsam offenbaren sich in diesem feinsinnig gesponnenen Episodenroman, die Verstrickungen und persönlichen Dilemmata. Unvermeidlicher Weise bleibt jedoch „Was wir ahnen“ (Picus) immer nur Ahnung; so sehr wir auch nach Selbstbewusstheit – gerade im Angesicht unerklärlicher Fehltritte – ringen.
Eine Erkenntnis, die auch bei Rachel reift, je tiefer sie in die Leidenschaften und Sehnsüchte eindringt, die sie so süchtig nach ihrer Amour fou haben werden lassen. Schreibend, Fetzen für Fetzen aus ihren verdrängten Erinnerungen zerrend, nähert sie sich den emotionalen Ursprüngen ihrer fatalen Dreiecksbeziehung, um nicht zuletzt, in jenen Momenten, wo die „Wahrheit“ zum Greifen nah scheint, wo narzisstische Triebhaftigkeit und angstgetriebener Selbstbetrug dämonische Gestalt annehmen, in zum Verzweifeln bringende Plattitüden zu verfallen. Und die Moral von Anna Raverats Geschicht'? Man könnte die Ausgeburten unserer Lebenslügen ja auch als „Lebenszeichen“ (rowohlt) deuten …
Damit will sich Heinz Helles Alter Ego aber beileibe nicht zufrieden geben. Irgendwie muss doch dieser kleinste gemeinsame, scheinbar alles definierende „Nenner“ meines Ichs, dieses vermaledeite Bewusstsein zu bestimmen sein! Als zur Aktion/Interaktion verdammter Erdenbewohner, kann sich dieses undechiffrierbare Neuronenmuster nur am Erleben manifestieren. Und so macht sich der Bewusstseinsforscher, als psychophilosophischer Danger Seeker, auf die Pirsch; saugt Situation für Situation in sich auf, die Sinne geschärft für jedes noch so banale Detail, der Implosion seines Selbstversuchs mit unaufhaltsamen Schritten entgegen. „Der beruhigende Klang von explodierendem Kerosin“ (Suhrkamp) als beinahe vollkommenes Erleben; und damit dem karnevalistischen Russisch Roulette ganz und gar nicht unähnlich, wenn die Närrinnen und Narren ihre Existenz aus purer Gier nach Leben auf's Spiel setzen. Nicht, dass ich dafür kein Verständnis hätte. Im Gegenteil. Aber es geht auch leiser, kann einen doch bisweilen – wie im Fall von Franz Dobler – genauso ein gemeiner Song auf's Wunderprächtigste aus der Bahn werfen. Die in „The Boy Named Sue“ (Tiamat) versammelten Anekdoten/redaktionellen Beiträge aus den „Memoiren eines zerstreuten Musikliebhabers“ gemahnen einen daran, endlich wieder den vollen Vinylsound des Lebens wahrzunehmen, statt sich unreflektiert mit dem alltäglichen, obertonkastrierten mp3-Instant-Gebräu volllaufen zu lassen. Also, ich für meinen Teil kann (zumindest dieses Jahr) gut auf irgendwelche jecken Eskapaden verzichten. Trotzdem: Alaaf!
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