Holm ist wieder da! Felix Holm, der vor rund drei Jahren das Licht der Buchhandlungen erblickte und gemeinsam mit Sven Regeners Frank Lehmann aufs Komischste die Probleme des modernen Mannes verkörpert. Damals wohnte er mit 37 Jahren bei seiner Tante auf der Couch, sein Alltag ging über Kaffeekränzchen mit Eierlikör kaum hinaus und schon der Besuch des Supermarktes geriet zum Abenteuer. Hier war kein Held, dessen Abenteuer in exotischer Ferne oder schwindelerregendem Tempo stattfanden, sondern einer, der schon an den Tücken des Alltags vor seiner Haustür zu scheitern drohte.
Striptease mit Reinhard Mey
Nun erhält „Ein Mann wie Holm“ mit dem Roman „Das Leben geht weiter“ eine Fortsetzung: Holm wohnt nun wieder bei seinen Eltern, sein Ausflug ins Arbeits- und Liebesleben ist gescheitert. Von der Wand seines Kinderzimmers lächelt Reinhard Mey, und der große Fan entwirft aberwitzige Geschäftsideen, um der Enge des Elternhauses zu entkommen. Selbst, wenn um ihn herum das Schicksal immer absurdere Kapriolen schlägt, bleibt Holm hiervon zumeist völlig ungerührt...
Wer steckt hinter dieser tragikomischen Figur? Von Holms Erfinder kann man nicht behaupten, er habe die Welt nicht gesehen: Matthias Keidtel, 1967 in Itzehoe geboren, wächst weitestgehend im Ausland auf. 1979 flieht seine Familie vor der islamischen Revolution aus Persien nach Israel. Auf dieses Erlebnis führt Keidtel seine „bis heute anhaltende Furcht vor Ortswechseln und Reisen“ zurück, die er auf seine literarische Figur übertragen hat. Mit dem Schreiben beginnt er in den 80er Jahren an der Deutschen Schule Tokio. Im Mauerfalljahr kehrt er nach Deutschland zurück und studiert Geschichte und Germanistik an der FU Berlin.
Seinen ersten Roman jedoch schreibt Keidtel erneut in der Ferne: Ein mehrmonatiger Aufenthalt in New York mündet in „Abgetaucht“, der 1998 erscheint. Die Hauptfigur ist ein junger Mann, der in U-Bahn-Tunneln lebt und sich mit der Kleidung eines Fremden auch dessen Leben überstreift. Jeder andere in Keidtels Situation hätte den Roman in der U-Bahn New Yorks spielen lassen; er hingegen verlegt die Handlung nach Berlin.
Schreiben ist wie Zigarrenrollen
Matthias Keidtel selbst beschließt mit dem Erfolg des ersten Romans, die Schriftstellerei fortan professionell zu betreiben. Da „Abgetaucht“ trotz positiver Resonanzen kein Bestseller wurde, muss Keidtel seinen Lebensunterhalt mit wechselnden Jobs finanzieren. Seine Jobwahl orientiert sich dabei allerdings eng an seinen Neigungen: Als Werbetexter für eine Berliner Tourismusagentur kann er sein sprachliches Talent ausspielen; als passionierter Zigarrenraucher macht er seine Leidenschaft zum Beruf, als er im Berliner Savoy Hotel Zigarren verkauft. Von Begegnungen mit Prominenten wie Paul Auster oder Roman Polanski schwärmt Keidtel noch heute. An guten Zigarren schätzt der Autor die Handarbeit, und so verwundert es nicht, dass er auch sein Schreiben als solches betreibt: „Bei der Arbeit mit dem Computer bleibt mir die Distanz zum Text zu groß, das ist, als ob man im Labor arbeiten würde. Ich schreibe lieber in diese kleinen karierten Hefte, die man bei der Post kaufen kann und übertrage das Ergebnis später in den Computer.“
Trilogie des modernen Mannes
Von der ersten Groteske, in der der Protagonist sich in einem fremden Leben zurecht finden muss, macht Keidtel in seinem zweiten Roman, „Falsche Verwandte“, einen Schritt zu einem Helden, dessen eigenes Leben durch eine fremde Macht auf den Kopf gestellt wird: Eines Nachts stellt der Historiker Bösendorfer fest, dass in seinen Flur eine Mauer eingezogen wurde, die ihm den Zugang zum Bad und weiteren Zimmern seiner Wohnung verwährt.
Die Holm-Romane sind die konsequente Weiterentwicklung dieser Ausgangssituation: Holm lebt sein eigenes Leben wie ein Fremder, wie ein passiver Zuschauer. Die Mauern in seinem Alltag baut er sich selbst. Sein fest gefügtes Weltbild, seine Vorurteile und Ängste pflegt er pedantisch. Sein Aktionsradius beschränkt sich auch Jahre nach dem Mauerfall auf den Westen Berlins, sein Tagesablauf kann beinahe als autistisch bezeichnet werden.
Die Distanz Holms zum Alltag, das Gefühl des Sich-Wunderns bildete die Grundlage für den ersten Holm-Roman: „Diese simple Frage „Was soll ich hier eigentlich?“ Im Supermarkt, im Kino, in der Disko. Aber auch allgemeiner: im Leben.“ – aus dieser heraus entwickelte sich der Romanheld Holm. Doch während des Schreibprozesses kam unweigerlich in Person seiner Freundin das Element des Weiblichen hinzu, das weite Feld der Beziehungen zwischen Mann und Frau. Der Grundstein für die „Trilogie des modernen Mannes“ war gelegt.
Bei aller Satire sind die Holm-Romane auch Bestandsaufnahme der Emanzipation und was diese mit dem Mann gemacht hat, der sich in der neuen Situation oft nicht zurechtfindet: „Nun schauen wir Männer immer nur noch: Was will die Frau? Welche Interessen hat sie? Was für einen Mann will sie haben? Einen Macho? Oder einen Softie? Jemand ganz anderen? Oder gar keinen? Das führt zu einer Verwirrung, von der ich gar nicht mehr weiß, wie man sie noch auflösen kann.“
Matthias Keidtel räumt ein, dass Holm selbstverständlich autobiographische Züge trage, dass sich diese Figur jedoch immer weiter von ihm weg entwickelt habe. Er vergleicht den Schreibprozess mit einem Tischtennis-Spiel: „Hier ist man selbst, dort ist die Figur, und wir spielen uns die Bälle zu. Am Ende ist die Figur ein Stück weiter gekommen, man selbst aber auch.“ Und tatsächlich kann auch der Autor von seiner Figur lernen: Weil sein Romanheld aus unerfindlichen Gründen Reinhard Mey-Fan ist, hat auch sein Schöpfer jüngst aus Recherchegründen ein Reinhard Mey-Konzert besucht. Und es hat ihm sogar gefallen …
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