Die international agierende Performing Arts Company „Un-Label“ hat es sich zur Aufgabe gemacht, die Rahmenbedingungen für Menschen mit Behinderungen zu fördern. Dabei besteht laut Aussage von Label-Gründerin Lisette Reuter noch viel Luft nach oben.
choices: Frau Reuter, inwiefern hat sich der Inklusionsbegriff in den letzten Jahren verändert?
Lisette Reuter: Der Inklusionsbegriff hat sich nicht wirklich verändert, aber ich glaube das Bewusstsein der Gesellschaft hat sich verändert. Der Begriff Inklusion beschreibt ein Konzept, in dem jeder Mensch akzeptiert wird und gleichberechtigt sowie selbstbestimmt an der Gesellschaft teilhaben kann, unabhängig von Geschlecht, Alter, Herkunft, Religionszugehörigkeit, Bildung, Behinderung oder sonstigen individuellen Merkmalen. In der Vergangenheit wurde in Deutschland Inklusion überwiegend im Bildungskontext mit einem speziellen Fokus auf Kinder und Jugendliche mit Behinderung diskutiert. Ich glaube jedoch, dass es mittlerweile angekommen ist, dass Inklusion eine politische Verpflichtung ist und eben nicht nur ein „nice to have“. Dennoch, Studien belegen, dass Menschen mit Behinderung strukturell besonders diskriminiert werden und nicht dieselben Teilhabechancen haben, und das, obwohl statistisch gesehen 19 Prozent der Bevölkerung Menschen mit Behinderung sind.
Was bedeutet das für den Umgang zwischen Menschen mit und ohne Behinderung?
Für Menschen mit Behinderung bedeutet das, dass in Deutschland, aber auch in anderen Ländern Europas, noch sehr viel Luft nach oben ist, denn eine gleichberechtigte gesellschaftliche Teilhabe ist bei weitem noch nicht möglich, obwohl wir hierzulande die UN-Behindertenrechtskonvention schon im Jahre 2009 ratifiziert haben. Eigentlich sind die rechtlichen Rahmenbedingungen klar, aber es gibt viel zu wenig konsequente Maßnahmen von Politik und Gesellschaft, um Inklusion umfassend umzusetzen. Wenn wir jetzt den Blick auf Kultur richten, dann geht es hier besonders um zentrale Fragen der Demokratie. Wie können wir verschiedenen kulturellen Stimmen am besten Gehör verschaffen? Wie kann unsere Teilhabe an der Kultur gesichert werden und wer sollte sie verteidigen? Wenn Menschen vom kulturellen Leben ausgeschlossen werden, kann dies Folgen für das Wohlergehen und die Nachhaltigkeit der sozialen Ordnung haben. Es ist außerdem sehr wichtig, sich darüber im Klaren zu sein, dass Kunst und Kultur einen großen politischen Auftrag haben. Sie haben immer eine zukunftsorientierte Dimension und enthalten Visionen einer zukünftigen Gesellschaft. Wir müssen uns also fragen, in was für einer Gesellschaft wollen wir leben? Es wird immer offensichtlicher, dass exklusive Kulturprogramme ein Legitimationsproblem haben, weil sie wichtige Gruppen der Gesellschaft nicht ansprechen.
Dieses Credo sollen auch eure aktuellen Projekte, „United Inclusion“ und „access:maker“, in das Bewusstsein der Gesellschaft tragen. Kommen wir zuerst zu „United Inclusion“.
Mit dem Projekt „United Inclusion“ bringen wir Kulturschaffende mit Behinderung und Akteure der Kulturförderung zusammen. Da Menschen mit Behinderung als Kulturschaffende und im Publikum nach wie vor eine Randerscheinung sind, die Kulturförderung aber ein wirkungsvolles Instrument für die Gestaltung von Chancengleichheit ist, setzen wir mit dem Projekt hier an. Bisher haben in acht moderierten Online-Gesprächsrunden Kulturschaffende mit Behinderung gemeinsam mit Vertreter:innen von Fördermaßnahmen des Bundes, der Länder, Kommunen und privater Stiftungen Bedarfe formuliert und konkrete Ideen für die Umsetzung gerecht gestalteter Kulturförderung entwickelt. Dabei waren z.B. Vertreterinnen der Kulturstiftung des Bundes bis hin zu den unterschiedlichsten Referats-Mitarbeiter:innen des Kölner Kulturamtes. Entstanden ist eine Publikation mit konkreten Handlungsempfehlungen für Förderinstitutionen. Sie ermöglichen Vertreter:innen von Maßnahmen der Kunst- und Kulturförderung eine strukturierte Vorgehensweise in der Konkretisierung von Handlungsschritten und deren Umsetzung.
Und worum geht es bei „access:maker“?
Das Projekt „access:maker“ ist von ganz anderer Natur. Es handelt sich um ein dreijähriges Modell. Wir beraten und begleiten über diese Zeit drei große Theater in NRW bei ihrem inklusiven Öffnungs- und Qualifizierungsprozess. Dabei handelt es sich um das Schauspielhaus Düsseldorf, das Theater Dortmund und die Comedia in Köln. Die Umsetzung erfolgt, indem Kulturschaffende und Expert:innen mit und ohne Behinderung in die Theater gehen und durch Workshops sowie Beratungen mit den Kooperationspartnern bedarfsorientiert schauen, wo man jeweils ansetzen muss, um den inklusiven Öffnungs- und Bewusstseinsprozess nachhaltig in Gang zu setzen. Bei einem Theater sind wir zum Beispiel direkt mit in die Produktionsprozesse gegangen, bei einem anderen wurde bei der Webseite angesetzt oder wir sind mit Sensibilisierungstrainings für die Mitarbeiter:innen gestartet. Neben der kontinuierlichen Beratung fanden auch vier Kreativ-Labore statt, die offen sind für alle Kulturschaffenden in Deutschland. Internationale Referent:innen und Expert:innen geben in diesen viertägigen Seminaren Peer to Peer-Trainings und praktische Einblicke in Best Practise-Projekte zu bestimmten Themen. Aus diesen Seminaren entstehen dann wiederum Handlungsempfehlungen und Info-Filme, die anschließend bundesweit publiziert und verbreitet werden.
Es geht uns besonders darum, mit diesen Aktivitäten den kulturellen Mainstream zu erreichen, denn Ziel ist natürlich, dass Kultur sich flächendeckend inklusiv öffnet und zugänglicher wird – hinter der Bühne, aber ebenso auch vor der Bühne für die Zuschauer:innen mit Behinderung. Ich bin davon überzeugt, dass keine Kultureinrichtung aktiv eine Gruppe von Menschen ausschließen will. Es liegt nicht am mangelnden guten Willen, sondern an fehlendem Wissen, an mangelnder Erfahrung und an fehlenden Ressourcen. Der Perspektivwechsel, der durch „access:maker“ initiiert wird, ist wichtig für die Entwicklung von Kunst- und Kulturinstitutionen, denn inklusiv zu arbeiten ist eine enorme künstlerische und menschliche Bereicherung.
Auf welche Schwierigkeiten stoßen Sie bei der Realisation Ihrer Ideen?
Die generelle Schwierigkeit ist natürlich, dass es einfach zu wenig finanzielle Ressourcen im Kulturbereich für die Umsetzung von Inklusion gibt. Ich gebe ein Beispiel: Wenn ich für eine Produktion 50.000 Euro beantrage, dann gibt man sehr leicht auch mal 10-15.000 Euro nur für Barrierefreiheit aus, etwa für die Einbindung von Gebärdensprachdolmetschern, die Erstellung einer Audiodeskription, barrierefreie PR etc. Dieses Budget muss bisher aus dem regulären Produktionstopf bezahlt werden, sprich, ich habe da weniger als andere Akteure, die nicht inklusiv arbeiten. Also bleibt meist nichts anderes übrig, als bei Honoraren zu sparen, was die ohnehin schon prekäre Situation von vielen Kulturschaffenden noch mal verstärkt. Von zentraler Bedeutung ist für mich, dass es nach wie vor zu wenig politische Rahmenbedingungen, also verpflichtende Förderungen und Maßnahmen gibt, um Inklusion wirklich umzusetzen.
Un-Label Performing Arts Company | Leyendeckerstr. 27, 50825 Köln | www.un-label.eu
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