Der Franzose Olivier Morel beantragt gerade seine US-Staatsbürgerschaft, als er für seine Kriegsheimkehrer-Reportage recherchiert: „Die Rückkehrer – Wenn der Krieg im Kopf nicht endet“ erzählt von traumatisierten Soldaten aus dem Irakkrieg. Maëls Zeichnungen tragen die desillusionierte Atmosphäre, während Morel intensiv Betroffene zu Wort kommen lässt. Ein bewegendes und kluges Werk (Carlsen). Wie häufig bei autobiografischen Comics, gelingt die Dramaturgie auch bei „Hexenblut“ von Suskas Lötzerich nur bedingt. Suska wird als Mädchen geboren, möchte aber ein Junge sein. Der Comic erzählt von einer Kindheit und Jugend voller Irritationen und Kämpfe um Selbstbestimmung. Eine ergreifende Biografie, die auch spannend und mitreißend erzählt wird, mit ihrem episodenhaften Aufbau aber auch etwas ungelenk wirkt (Luftschacht).
Auch Mawils „Kinderland“ ist autobiografisch geprägt. Fast 300 Seiten lang ist die Geschichte aus den letzten Tagen der DDR geraten. Dramaturgisch sind die Erlebnisse des Mirco Watzke einfacher zu fassen als bei „Hexenblut“, weil die Handlung nur wenige Wochen umfasst. Dafür geht Mawil bei einigen Szenen über die Planung eines großen Tischtennisturniers an der Schule stark ins Detail. Selten war deutlicher, dass er zeichnerisch so sehr von dem Franzosen Baru beeinflusst ist (Reprodukt). Noch ein autobiografisches Werk: Nach „Das Spiel der Schwalben“ erzählt Zeina Abirached das zweite Mal aus ihrer Kindheit in Beirut: „Ich erinnere mich“ lautet der programmatische Titel des Bandes, der eine Kindheit im Bürgerkrieg schildert. Gekonnt setzt Abirached den kindlich-naiven Blick der jungen Ich-Erzählerin ein, um die absurden Alltagssituationen in der umkämpften Stadt zu schildern. Die Zeichnungen mit ihren starken, ornamentalen Schwarzweiß-Kontrasten sind schön wie im Vorgänger-Band, aber mit der additiven Phrase „Ich erinnere mich“ mag sich kein rechter Erzählfluss einstellen (avant verlag).
Ein Erlebnisbad außer Rand und Band: Einst war hier Weideland, jetzt umschließen riesige Glaskuppeln ein großes Badeparadies. Aber Marine Blandin erzählt mit „Eine nautische Fabel“ von den Abgründen einer solchen Wasserwelt, in der sich Untiefen auftun, Fabelwesen umherziehen und das soziale Gleichgewicht langsam außer Kontrolle gerät. Die als Funny gezeichnete Fabel entfaltet zunehmend düstere, aber auch poetische Momente (Carlsen). Ebenfalls fiktiv und auch mit tierischen Protagonisten besetzt ist „Rezzo und Elisabeth“ von Till Thomas. In stilisierten Zeichnungen erzählt er ein großes Drama von Liebe, Eifersucht, Macht und Gewalt. Unerbittlich lässt er seine Protagonisten ins Unglück laufen und nur die Stilisierung macht den ganzen Schlamassel erträglich (avant verlag). Toughe Typen: Ein klassischer Noir-Thriller ist „Parker – Das Syndikat“ von Darwyn Cooke. Es ist bereits Cookes zweite Adaption eines Richard-Stark-Krimis, die sich auch zeichnerisch vollkommen an den 60er Jahren, der Handlungszeit der Vorlage, orientiert (Eichborn). Mit „Namen und Orte: Namen“ wird der letzte der vier Teile von Stéphane Heuets Adaption von Marcel Prousts „Unterwegs zu Swann“ veröffentlicht. Nach den beiden Alben zu „Im Schatten junger Mädchenblüte“ liegen nun die ersten sechs Bände von Marcel Prousts sieben Bände umfassenden Hauptwerk „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“ als Comicadaption vor. Hier nun erinnert sich der Erzähler an eine erste Jugendliebe, die unerwidert blieb. Sentimental sinniert der Erzähler über die Hoffnungen des Verliebten und das Vergehen der Zeit. Heuet lässt Prousts Werke in wunderschönen Zeichnungen auferstehen (Knesebeck).
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