Nach Bonn und Frankfurt am Main nun auch Köln. Der erste Bücherschrank steht in der Goltsteinstraße, der zweite wurde im Rheinauhafen errichtet, und es sollen noch 22 andere über das gesamte Stadtgebiet verteilt folgen. Die Idee ist nicht neu, Behältnisse für Bücher werden errichtet, in die Menschen ihre Bücher hineingeben und Bücher mitnehmen können. Aber noch nie hat sie jemand technisch und ästhetisch so ausgefeilt realisiert, wie der Ingenieur und Architekt Hans-Jürgen Greve, der seine Konstruktion „Bokx“ nennt. Die Schränke sind fest in der Erde montiert, besitzen Stahl- und Glaswände, die nicht so leicht zu demolieren sind, Wind und Wetter und sogar dem Sprayerwahn trotzen. Das neu entwickelte Modell „Köln“ besitzt sogar eine Wand zur Präsentation von Kunst. Mary Bauermeister gestaltete mit einer subtilen Madonneninstallation eine schlitzohrige Attacke gegen katholische Frömmigkeit.
Eindrucksvoll ist jedoch vor allem die Tatsache, dass die Schränke – die flächendeckend auf Plätzen, Kreuzungen und Parks installiert werden sollen – das Stadtbild verändern werden. Die Erfahrung hat gezeigt, dass sich dort, wo die Schränke stehen, sofort Kommunikation entwickelt. Menschen kommen miteinander ins Gespräch, Kinder und Jugendliche sehen, dass Erwachsene in ein Buch schauen, weil sich dort offenbar etwas Interessantes entdecken lässt. Genau jene Szene, die in etwa einem Viertel aller Familien heutzutage nicht mehr vorkommt. „Die Schränke entwickeln eine Funktion, die früher die Brunnen erfüllten, wo man sich traf und ins Gespräch kam“, erklärt Hans Jürgen Greve.
Eine Idee, die von einem 68er stammen könnte, der unentgeltliche Tausch von Texten, für jedermann zugänglich. Aber nun erst, zwei Generationen später, wird dieser Gedanke mit all seinen technischen Notwendigkeiten realisiert. Der Austausch sieht anders aus als im Netz, hier kreisen keine Informationen, sondern Geschichten. Das Verhältnis von Hoch- und Trivialkultur wird geprüft, das Ausschließungssystem des bürgerlichen Kulturdünkels ausgehebelt. Das Buch selbst wird Thema: Wie alt ist es, wie ist sein Zustand, wie ist es gemacht? Die Ästhetik des Gegenstands ist Anlass, sich mit ihm auseinanderzusetzen.
Was zunächst in Bonn ausprobiert wurde, könnte nun in Köln – Essen ist auch schon im Gespräch – den Umgang mit der Buchkultur auch national verändern. So
unprätentiös und zugleich liebevoll in seiner durchdachten Konstruktion kann der Umgang mit dem Buch auf eine neue Weise erlebt werden. Die Schränke setzen optische Akzente und bringen Ruhe in die Hektik des öffentlichen Raums. Dass sich hier ein Bedürfnis unseres Zeitgeistes formuliert, zeigt sich auch daran, dass man etwa in Frankreich auf ganz ähnliche Phänomene stößt. Dort werden Bücherschränke auf Hunderten von Bahnhöfen errichtet. Gérard Depardieu, der als Jugendlicher in die Kriminalität abzugleiten drohte, hat die Patenschaft für diese Aktion übernommen, weil er sagt, „ohne Bücher wäre es schlecht mit mir gelaufen“.
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