„Die Geheimnisvollen Städte“ sind eines der faszinierendsten Langzeitprojekte der Comickunst. Die Belgier François Schuiten und Benoît Peeters verbinden seit den frühen 80er Jahren ihr urbanistisches Interesse mit Fin-de-Siècle-Fantastik und gestalten ihre Parallelwelt in einer Mischung aus Steampunk und Jugendstil. Immer wieder gibt es in ihren Storys Berührungspunkte zu unserer Welt, Tore des Austauschs, die von Welt zu Welt vermitteln. So auch in „Das schräge Mädchen“, wo Mary nach einer wilden Achterbahnfahrt plötzlich Schlagseite hat und nach vielen Irrungen schließlich auf einem anderen Planeten landet. Die aufwendigen Schwarzweiß-Zeichnungen erinnern an Stiche, die Geschichte ist schier episch. Nun ist der wohl dickste Band der Reihe, der in den 90er Jahren bereits unter dem Namen der Protagonistin „Mary“ erschien, endlich wieder erhältlich (Schreiber & Leser).
Sehr geerdet ist „Tungstênio“ von Marcello Quintanilha. Der Brasilianer erzählt minutiös, aber mit ständigen Perspektivwechseln von vier Menschen, deren Leben sich für einen Augenblick kreuzen. Am Ende ist nicht mal ein Tag vergangen, aber über Erinnerungsfetzen ragen die Geschichten der Figuren weit in die Vergangenheit. Ein actionreiches, atemloses Erzählexperiment (avant-verlag). Der Italiener Zerocalcare berichtet in „Kobane Calling“ von seinen Reisen in die autonome Föderation Rojava im Norden Syriens, wo Kurden dem IS in den Jahren 2014 und 2015 erfolgreich standgehalten haben. Den Schrecken versucht er von Anfang an mit Humor zu bannen. Das gelingt natürlich nur bedingt: Das Lachen bleibt einem im Halse stecken, wenn die türkische Regierung Druck ausübt und wenige Kilometer entfernt der IS wütet. Viele Einzelschicksale von Menschen, die der Zeichner auf seiner Reise trifft, illustrieren das komplexe Thema (avant-verlag). Tom Tirabosco, bekannt durch Kindercomics, düster-verwunschene Fantasien für Erwachsene wie „Das Ende der Welt“ und „Im Dunkeln“ oder seine Joseph-Conrad-Adaption „Kongo“, erzählt in „Wunderland“ aus seiner Kindheit, die bestimmt war von einem rohen Vater und der Behinderung seines jüngeren Bruders. In weichen Kohlezeichnungen taucht Tirabosco in eine nicht einfache Familiengeschichte in der Schweiz der 70er Jahre ein (avant-verlag).
„Paper Girls“ – das sind eine Hand voll junger Teenager, die in einer amerikanischen Kleinstadt im Morgengrauen Zeitungen austragen. Bis die Mädchen an diesem einen Tag auf mumienartige Aliens und deren Widersacher auf Flugsauriern stoßen. Im Nu sind sie die einzigen Überlebenden in der Stadt. Brian K. Vaughn („Y: The Last Man“) hat sich den Irrsinn um die Mädchengang ausgedacht, Cliff Chiang hat die Geschichte gezeichnet. Der erste Band um die Girls, die über sich selbst hinauswachsen, ist spektakulär und hat einen tollen Cliffhanger (Cross Cult). Luke Pearson hat mit „Hilda“ eine wunderbare Kinderserie geschaffen. Auch der neueste Band „Hilda und der Steinwald“ sucht sowohl in Bezug auf Story und Gestaltung seinesgleichen. Er quillt nur so über vor skurrilen Wesen und fantastischen Abenteuern, an allen Naturgesetzen vorbei. Mittendrin die mutige Hilda, die dieses Mal gemeinsam mit ihrer Mutter ein haarsträubendes Abenteuer bewältigen muss (Reprodukt).
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