Beim Betreten gilt es, sich zwischen mehreren bunt bespielten Bildschirmen, täuschend echt aussehenden Enten-Attrappen und weiteren Kunstwerken zurechtzufinden. Dabei stolpert man gleich zu Beginn der transmedialen Exposition über einen dreidimensionalen, silberfarbenen Schriftzug am Boden: „We are climate neutral“. Die Geschichte dahinter eröffnet eine dezidierte Perspektive auf das gegenwärtige Verhältnis zwischen Mensch, Natur und Technik: Anton Linus Jehle hat für diesen Schriftzug Teile eines defekten E-Scooters der deutschen Marke „Tier“ eingeschmolzen. Der zur Zeit der Entstehung des Kunstwerks aktuelle Werbeslogan des Unternehmens verbirgt sich hinter den aus Aluminium gegossenen Lettern. Seit zweieinhalb Jahren beschäftigt sich Jehle innerhalb verschiedener künstlerischer Experimente mit der sogenannten Mikromobilität durch E-Scooter und ihre Auswirkungen auf die Umwelt. Bezogen darauf sorgten beispielsweise im Juni 2021 die Schlagzeilen von mehr als 500 im Rhein liegenden „Tier“-Scootern für Aufsehen. Nach aktuellen Recherchen wurde nur ein Bruchteil davon bis heute geborgen – Klimaneutralität par excellence.
In einem separaten Raum der Temporary Gallery können sich Besucher:innen anschließend, gebettet auf einem großen Sitzsack, einen 22-minütigen Animationsfilm ansehen. Dieser erzählt von einem Zukunftsszenario, in dem das wissenschaftliche Geo-Tracking von Zugvögeln in eine Korrelation mit dem auf Naturkatastrophen bezogenen Animismus in Ostasien gebracht wird. Innerhalb dieses Projekts, das den Namen „The Backpack of Wings: Modern Mythology“ trägt, haben sich Hyeseon Jeong und Seongmin Yuk mit tierischen Vorahnungen in Bezug auf Naturereignisse auseinandergesetzt. Die Tierverhaltensdaten ermöglichen innerhalb ihres fiktionalen Animationsfilms eine Vorhersage von seismischen Katastrophen und bieten die Grundlage einer möglichen Neudefinition der Beziehung zwischen Mensch, Tier und Umwelt. Inspiriert wurde diese Arbeit durch das Icarus-Projekt des Max-Planck-Instituts für Verhaltensbiologie, in dem die Messdaten unterschiedlichster, mit Minisendern ausgestatteter Tierarten auf der ganzen Welt untersucht werden.
Durch einen Vorhang gelangt man schließlich in den hintersten Raum der Galerie, in dem sich unter anderem die Videoinstallation „Koenig der Tiere“ von Lisa James befindet. Darin kombiniert die Künstlerin 16mm-Filmmaterial, entstanden im Zoologischen Forschungsmuseum Koenig in Bonn, mit Animationen und Informationen zu den ausgestellten Tieren. Sie beleuchtet damit die Frage nach dem Verhältnis zwischen den in Dioramen durch Menschen konstruierten Szenen und den Biographien der tierischen Lebewesen, die zu Präparaten wurden.
„Talk to Me“ vereint die Werke von Alumni, Forschenden, Lehrenden und Studierenden der Kölner Kunsthochschule für Medien. Das Projekt hinterfragt den menschlichen Blick auf die Natur und den Umgang mit ihr auf vielfältige Weise. Dabei fordert die Ausstellung – die bis zum 2. Juni zu sehen ist – einiges an Aufnahmefähigkeit und Konzentration, da jedes Projekt eine umfassende, eigene Geschichte mitbringt und die transmediale Darstellungsform nahezu alle Sinne beansprucht.
Talk to Me – Other Histories of Nature | bis 2.6. | Temporary Gallery | www.temporarygallery.org
Hat Ihnen dieser Beitrag gefallen? Als unabhängiges und kostenloses Medium sind wir auf die Unterstützung unserer Leserinnen und Leser angewiesen. Wenn Sie uns und unsere Arbeit finanziell mit einem freiwilligen Betrag unterstützen möchten, dann erfahren Sie über den nebenstehenden Button mehr.
Vom Wasser
„Vibrant Waters“ in der Temporary Gallery
Die Überwindung des Blutes
„Unruly Kinships“ in der Temporary Gallery – Kunstwandel 04/23
Geträumter Galopp
„Hold your horses“ in der Temporary Gallery – Kunstwandel 09/22
Gute-Nacht-Geschichten mit Gesellschaftskritik
Alicja Rogalska in der Kölner Temporary Gallery – Kunst 01/22
Vom Zufall und Sinn gesehener Dinge
Marie Angeletti im Kölnischen Kunstverein – kunst & gut 06/23
Äußerst kostbare Zeiten
Bea Meyer im kjubh Kunstverein – Kunst 05/23
Innenleben der Wirklichkeit
„Ursula – Das bin ich. Na und?“ im Museum Ludwig – kunst & gut 05/23
Eine Tradition des Hasses
„UN|sichtbarer Terror“ im NS DOK – Kunst 04/23
Lichterfüllte, funktionale Orte
Lucinda Devlin mit einer Werkschau in der Photographischen Sammlung – kunst & gut 04/23
Unwahrheiten im Netz
„Pizzagate“ in der Fuhrwerkswaage – Kunst 03/23
Ein Star unter den Fotografierten
Max Ernst auf Fotografien in seinem Museum in Brühl – kunst & gut 03/23
Der Baum in uns allen
„Between the Trees“ im MAKK – Kunstwandel 03/23
Gegenwart der Traditionen
„Horizonte“ im Museum für Ostasiatische Kunst in Köln – kunst & gut 02/23
Die Utopie der Liebe
„Love? Eine Werkstatt“ im Rautenstrauch-Joest-Museum – Kunstwandel 02/23
Mehr Raum für Kultur
Mouches Volantes am Ebertplatz – Kunst 01/23
Welcome to the Shitshow
„Ernsthaft!?“ in der Bonner Bundeskunsthalle – Kunstwandel 01/23
Orte abermals zu besuchen
„making being here enough” im Kolumba – kunst & gut 01/23
Eine schrecklich alte Geschichte
„Susanna“ im Wallraf-Richartz-Museum – kunst & gut 12/22
Gold-blau-schwarzes Glühen
Herbst- und Wintersalon im Kunstraum Grevy – Kunstwandel 12/22
„Verbindungen schaffen“
Das Kuratorenteam spricht über den Performance Garten – Kunst 11/22
Visuelles Gesamtkunstwerk
Die Oper als Ausstellungsobjekt in Bonn – Kunstwandel 11/22
Bücher ausstellen
„Bibliomania“ im Kunstmuseum Villa Zanders – kunst & gut 11/22
Vom Umgang mit Kolonialkunst
Auftakt der Ringvorlesung „Res(t)ituieren“ im Kubus – Kunst 10/22
Symbole für die Ewigkeit?
„Haut, Stein“ im NS DOK – Kunst 10/22