Als Napoleon im Oktober 1794 die freie Reichsstadt Köln widerstandslos einnahm, soll er seiner Kavallerie die Anweisung gegeben haben, die Pferde in den Dom zu führen. Die Kathedrale wurde demnach kurzerhand zum Futtermagazin, Militärdepot und Gefangenenlager umfunktioniert (Quelle: domradio.de). Die Anwesenheit von Vierhufern an bemerkenswerten Stätten ist in der Rheinmetropole nichts ungewöhnliches, sehen Passanten in der Richmodstraße bis heute die Köpfe zweier Schimmel Richtung Neumarkt recken.
Auf die Zugkraft von Nutztieren setzten die Menschen zu allen Zeiten, doch die Gattung Equidae pendelte stets zwischen edlem Begleiter von Rittern, Fürsten oder Königen und stämmigem Ackergaul. Als Gleichnis für die englische Redewendung „Hold your horses“ („Die Pferde im Zaum halten“) sind Hengste und Stuten in Bradley Davies‘ Kunst-Konzept allgegenwärtig, wenngleich unsichtbar. Vielmehr erwartet die Besucher der Temporary Gallery eine wohlstrukturierte Collage aus Klängen, zwei- sowie dreidimensionalen Impressionen, die sich während der Begehung bald zur Einheit einer grandiosen Imitation formt.
Neben der Idee von Reittieren ist selbst die Urlaubsfreude angesichts verwelkender Sonnenblumen eine (Ent-)Täuschung. Das gilt jedoch nicht für „Hold your horses“. Fantastischen Sprüngen und dem Galopp des Geistes sind hier keine Limits gesetzt. Werden die Synapsen im ersten Saal noch von großformatigen Öl-Gemälden in pastellfarbenen Tönen gestreichelt, die auf lichte Abordnungen unentschlossener Dunkelheit treffen, tarnt sich Raum Zwei als Rumpelkammer mit Werkzeugen. Erst in der Bereitschaft, sich von Ästhetik ab- und dem Chaos zuzuwenden, finden sich Bildnisse, die mittelalterliche Kampfszenen darstellen. Davies spannt hier Motive aus der Schlacht bei Hastings auf Bügelbretter.
Keine haferkauenden Vollblüter auch im letzten Bereich: Stattdessen in die Wand eingelassenes Zaumzeug und Pauschenpferde auf dem Boden. Über allem schwebt eine verzweifelte bis betörende Symphonie, die Gewieher, Geschnaube und das Stampfen der Tiere nachahmt. Dieses lauteste Areal der Galerie vermittelt durch metallenes Geschirr und die gespreizten Glieder der Objekte den Anschein eines S/M-Studios, in dem Schmerz das Gebot, Lust eine offene Frage und Erlösung eine Utopie bleiben.
Bradley Davies : Hold your horses | bis 4.9. | Temporary Gallery | 0221 30 23 44 66
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