Ein Roman über alles, kann das funktionieren? Ein Buch, das alle literarischen Grenzen ignoriert, ist das möglich? Nein, das kann nicht gelingen. Aber warum auch, schon der Versuch ist es wert. Navid Kermani legt mit „Dein Name“ einen über 1200 eng gedruckte Seiten starken Roman vor, den er jetzt im Schauspielhaus Köln präsentierte. Eine launische Veranstaltung. Aufgrund einer Fehlinformation mussten die vielen Besucher 40 Minuten auf den Beginn des Abends warten. Die Moderatorin Dina Netz schien ihrerseits nicht unbedingt begeistert von Kermanis kühnem Roman-Experiment zu sein. Die Schauspieler Andreas Grötzinger, Jennifer Frank und Michael Wittenborn brachten mit ihren Lesungen Tempo, Dramatik und Humor des Textes allerdings trefflich zum Klingen.
Dem Erzähler, der den Namen Kermani trägt und mit dem der Autor manchmal identisch ist und manchmal nicht, sterben in kurzer Zeit fünf wichtige Menschen weg. Ein Schock, dessen Wucht er mit dem Verfassen eines Totenbuchs zu begegnen sucht. Zärtliche Nachrufe beginnt er zu schreiben und dabei fließt ihm der Alltag in die Tastatur des Laptops. Er beschreibt den Kölner Eigelstein als das Quartier hinter dem Hauptbahnhof, in dem sich die Fremden aller Herren Länder fremd bleiben. In allen großen Städten gibt es solche Flecken kultureller Desorientierung, Kermani beschreibt sie mit packender Genauigkeit. Immer wieder gelingen ihm Passagen, in denen er uns die unaussprechliche Realität unseres urbanen Alltags als pointiertes Bild literarisch festhält.
„Niemals fühlt man sich so auf sich zurückgeworfen, wie in jenen Momenten, in denen wir den Tod eines geliebten Menschen hinnehmen müssen“, erklärt er. Dieser Gestus der Bestandsaufnahme zieht sich durch das Buch, so dass es von Köln, wo Kermani heute lebt, ebenso handelt wie von Siegen, in dem er seine Kindheit verbrachte, von Persien, der Heimat seiner Eltern, von Äthiopien, den Werken Jean Pauls, der Musik Neil Youngs und immer wieder der Familie. „Die Familie ist das, was bleibt“ meint Kermani. Die familiären Erforschungen des Großvaters werden geschildert und produzieren streckenweise ein lauwarmes Umrühren von Verwandtschaftsverhältnissen, das Privatheit und einige Langeweile produziert.
Dann gelingen Kermani wieder atemberaubende Passagen, in denen er das Ringen mit den Tücken des Alltags und Situationen beschreibt, in denen die Familie um das Schicksal des herzkranken Vaters in der Klinik bangt. Großartig auch die Beobachtungen auf einer Geburtsstation, wo er den stillen Lebenskampf eines zu früh geborenen Mädchens in Worte zu fassen vermag. Der Spagat zwischen den großen, heiligen Momenten des Lebens und dem tapfer zu ertragenden Irrsinn banalster Verrichtungen gelingt Kermani auch bemerkenswert oft. Im Zeitalter des geschwätzigen Wisperns der sozialen Netzwerke zeigt dieser Roman, dass die Gegenwart in ihrer körnigen, chaotischen Zufälligkeit literarisch bewältigt werden kann. Dem Erstaunen darf Ausdruck verliehen werden.
Navid Kermani: Dein Name | Carl Hanser Verlag | 1230 S., 34,90 Euro
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