Die Geburt war lange Zeit ein Geburtsfest, und Frauen wurden als Lebensspenderinnern verehrt. Dann prägte die christliche Auffassung des Sündenfalls unser Bild auf Frauen und Geburt. Nicht die Biologie, sondern der Glaube an einen Fluch, verkuppelte mit der Geburt den Schmerz. Im frühen Mittelalter führte die Geringschätzung von Frauen dazu, dass Frauen während der Schwangerschaft und Geburt isoliert und alle Hilfe und Heilung verboten wurden. Damit wandelte sich das Bild vom freudigen Geburtsfest zu einer gefürchteten Qual.
Auf dem Deutschen Gynäkologenkongress von 1966 wurde die Geburtsmedizin als Gegenstück der Geburtshilfe eingeführt, mit der Begründung, dass die Geburt als der gefährlichste Lebensabschnitt des Menschen anzusehen sei und die Gebärende einer medizinischen Oberaufsicht bedürfe. Die Wortwahl offenbart wie angst- und absicherungsorientiert daran herangegangen wurde.
Die Hintergründe verblassten mit der Zeit, aber die Geschichten von Schmerzen und Leid wurden von den Generationen weitergetragen. Heute kann man sich dem gesellschaftlichen Einfluss nicht entziehen. In unserer lauten Zeit scheint kein Platz für innige und unspektakuläre Geburten. Wer kennt sie nicht, die Bilder von aufgerissenen Mündern, kreischenden Frauen, hilflosen
Männern und Blut. Spätestens da wurde aus einem Millionen Jahre alten natürlichen Vorgang, eine Art von Krankheit.
Die Natur hat diesen Prozess, an dessen Ende ein vollkommenes Wesen steht, perfekt gestaltet. Sie hat die Plazenta bereitgestellt, die anders als alle anderen Organe eigenes Wachstum steuern und parallel dazu volle Funktionstüchtigkeit sicherstellt. Sie hat die Fruchtblase konzipiert einen Miniaturozean mit konstant 38 Grad warmen Wasser und regelmäßigem Wasseraustausch. Sie hat entschieden, dass das menschliche Baby im Schnitt drei Monate früher geboren wird und dann nachreift, da sonst der Kopf für die natürliche Geburt zu groß werden würde.
Um nicht missverstanden zu werden: Es ist eine Errungenschaft, dass es Ärzte und moderne Medizin gibt, die bei Bedarf und im Notfall richtig angewendet helfen – aber die Betonung liegt auf Bedarf und Notfall. Die Bedingungen für eine gesunde Schwangerschaft und Geburt, waren nie so optimal wie heute. Die Bandbreite der unterschiedlichen Ansätze und Hilfsangebote sind vielfältig.
Damit ist es an der Zeit, das Wohl und den Schutz von Mutter und Kind wieder in den Vordergrund und ökonomische Interessen, gesellschaftliche und religiöse Prägungen in den Hintergrund zu stellen. Transparenz, Aufklärung und Respekt vor der Mutter als Expertin, ausgestattet mit Gebärkompetenz, ist nötig für innere Ruhe und Vertrauen. Die Anerkennung von Schwangerschaft und Geburt als Arbeit, Interesse und Disziplin, als Leistung, die einer Besteigung des Mount Everest entspricht. Was wäre, wenn Geburt tatsächlich ein Geburtsfest wäre. Ein Fest, das man vorbereitet, soweit möglich nach seinem Wünschen gestaltet, sich mit Menschen umgibt, die einem guttun und offen für Überraschungen bleibt.
Ein Fest, dass man so feiert, wie man es mag: freudig laut, behutsam still, einprägsam intensiv. Denn es ist nicht nur wichtig, dass wir gesund zur Welt kommen. Das Wie macht den Unterschied.
Der Untergang der Hebammenkultur – Lesen Sie weitere Artikel
zum Thema auch unter: trailer-ruhr.de/thema und engels-kultur.de/thema
Aktiv im Thema
familienplanung.de | Das Informationsportal der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung widmet dem Thema Geburt viel Platz und erörtert Für und Wider der unterschiedlichen Methoden.
normale-geburt.de | Die Kampagne führt Argumente pro „normale“ Geburt ins Feld: nach dieser Lesart ist dies eine Hausgeburt ohne chirurgische oder chemische Eingriffe.
hebammenblog.de | Jana Friedrich aus Berlin ist eine Hebamme mit jahrelanger Berufserfahrung. Auf diesem Blog lässt sie Interessierte an ihren praktischen Expertinnenwissen teilhaben.
Fragen der Zeit: Wie wollen wir leben?
Schreiben Sie uns unter meinung@choices.de.
Hat Ihnen dieser Beitrag gefallen? Als unabhängiges und kostenloses Medium sind wir auf die Unterstützung unserer Leserinnen und Leser angewiesen. Wenn Sie uns und unsere Arbeit finanziell mit einem freiwilligen Betrag unterstützen möchten, dann erfahren Sie über den nebenstehenden Button mehr.
Geburtswünsche
Intro - Geburts-Tag
Geburt – Trauma oder Traum?
Das Kölner Geburtshaus fördert die Selbstbestimmung werdender Mütter
Superstars im Kreißsaal
Eine Utopie
„Eine natürliche Geburt hat psychische und physische Vorteile“
Katharina Desery von Mother Hood e.V. über selbstbestimmte Geburten und Hebammenmangel
Aus Alt mach Neu
Teil 1: Leitartikel – (Pop-)Kultur als Spiel mit Vergangenheit und Gegenwart
Nostalgie ist kein Zukunftskonzept
Teil 2: Leitartikel – Die Politik Ludwig Erhards taugt nicht, um gegenwärtige Krisen zu bewältigen
Glücklich erinnert
Teil 3: Leitartikel – Wir brauchen Erinnerungen, um gut zu leben und gut zusammenzuleben
Es sind bloß Spiele
Teil 1: Leitartikel – Videospiele können überwältigen. Wir sind ihnen aber nicht ausgeliefert.
Werben fürs Sterben
Teil 2: Leitartikel – Zum Deal zwischen Borussia Dortmund und Rheinmetall
Das Spiel mit der Metapher
Teil 3: Leitartikel – Was uns Brettspiele übers Leben verraten
Demokratischer Bettvorleger
Teil 1: Leitartikel – Warum das EU-Parlament kaum etwas zu sagen hat
Europäische Verheißung
Teil 2: Leitartikel – Auf der Suche nach Europa in Georgien
Paradigmenwechsel oder Papiertiger?
Teil 3: Leitartikel – Das EU-Lieferkettengesetz macht vieles gut. Zweifel bleiben.
Friede den Ozeanen
Teil 1: Leitartikel – Meeresschutz vor dem Durchbruch?
Vom Mythos zur Mülldeponie
Teil 2: Leitartikel – Wie der Mensch das Meer unterwarf
Stimmen des Untergangs
Teil 3: Leitartikel – Allen internationalen Vereinbarungen zum Trotz: Unsere Lebensweise vernichtet Lebensgrundlagen
Zu Staatsfeinden erklärt
Teil 1: Leitartikel – Der Streit über Jugendgewalt ist rassistisch aufgeladen
Der andere Grusel
Teil 2: Leitartikel – Von der rätselhaften Faszination an True Crime
Maßgeschneiderte Hilfe
Teil 3: Leitartikel – Gegen häusliche Gewalt braucht es mehr als politische Programme
Die Masse macht’s nicht mehr
Teil 1: Leitartikel – Tierhaltung zwischen Interessen und Idealen
Wildern oder auswildern
Teil 2: Leitartikel – Der Mensch und das Wildtier
Sehr alte Freunde
Teil 3: Leitartikel – Warum der Hund zum Menschen gehört
Durch dick und dünn
Teil 1: Leitartikel – Warum zum guten Leben gute Freunde gehören
Von leisen Küssen zu lauten Fehltritten
Teil 2: Leitartikel – Offene Beziehungen: Freiheit oder Flucht vor der Monogamie?
Pippis Leserinnen
Teil 3: Leitartikel – Zum Gerangel um moderne Lebensgemeinschaften