„… um die dreißig, liiert, reich und parfümiert laufen sie hand in hand durch die gegend, als hätten sie angst, allein die straße zu überqueren, sie sehen gut aus und sind total bio, […] und du schwörst, nie zu werden wie die, schon weil sie selber mal punks oder alternativ-ökos waren, wie sie gerne über ihrem coffeinfreien kaffee erzählen, […] sie erinnern sich und es kommen ihnen beinah die tränen vor lauter rührung… „
Die Hand schnellt nach oben. Reflexartiges Abwinken. Fehlte nur noch, dass einem der Spruch über die Lippen rutscht: „Mach du erst mal Abitur!“ Doch genau darum geht es Oles Tochter nicht. Sie hat keinen Bock auf den gequirlten Einheitsbrei, gegen den wir früher selber rebelliert haben, all die schmucken Fassaden, hinter denen es bröckelt und bröselt, hinter denen notdürftig geflickschustert wird, nur um sie irgendwie aufrecht zu halten, damit man ja nicht aus dem Raster fällt. Auch wenn er nur noch ambitionslos vor sich hin vegetiert, bildet Jaroslav Rudiš‘ Alt-Punk und Kneipier da keine Ausnahme. Was waren das noch für Zeiten, als man im Spätkommunismus für seinen Widerstand gegen das spießige System handfest abgestraft wurde, eine Reise zum ersten Toten-Hosen-Konzert im einstigen „Ostblock“ einem das ganze Leben „ruinieren“ konnte?! Heute stehen nicht mal mehr der letzten Scharteke im Angesicht eines Igels die Haare zu Berge. Ernüchtert stellen wir fest, dass wir als Gegenpol dem System nur zu noch mehr Stabilität verhelfen. Was bleibt, ist der melancholische Abgesang „Vom Ende des Punks in Helsinki“ (Luchterhand).
Eine Implosion müsste her! Weniger à la Marx, vielmehr à la Stephan Kaluza. Doch die liegt nicht unseren Händen. Das Kapital müsste sich selber abschaffen, indem es dem Geld seine Wertigkeit entzieht. Tabula rasa. Für die einen Dystopie, für die anderen Utopie, für die meisten allerdings, ob reich oder arm, eine Vorstellung, die uns wie der verzweifelte Versuch einer Imagination des Nichts in den Wahnsinn treibt – und dementsprechend von unserem Geist unmittelbar mit ihrem Aufkommen wieder in den hintersten Winkel unseres Hirns verbannt wird. Als einer der dreißig reichsten Männer der Welt in einem von „30 Keller[n]“ (FVA) bleibt dem entführten Multimilliardär Meisner allerdings nicht anderes übrig, als sich dieser „terroristischen“ Vision zu stellen. Verzweifelt klammert er sich an „sein Leben“ – in der „gerechtfertigten“ Hoffnung, dass das Kapital letzten Endes selbst aus der Abschaffung des Kapitals noch Kapital schlagen würde und wir Handlanger ihm dabei weiterhin dienstbar zur Seite stehen.
Und doch ist eine schleichende Veränderung im Bewusstsein zu bemerken. Kam es einem ausgangs des letzten Jahrhunderts so vor, als würde zum Beispiel die Fotografie nur noch im Sinne einer ästhetisierenden Avantgarde agieren, so zeichnen sich in der studentischen Werkschau „Photography“ (Hatje Cantz) der Ecole Cantonale d'art de Lausanne, kurz: ECAL, erfrischende Brechungen in der Wahrnehmung und Darstellung ab. Ob inszeniert oder realisiert, die Form des Ausdrucks erscheint wieder verstärkt vom Eindruck, vom Abgleich eines rebellischen Geists mit seiner Umwelt geprägt. Natürlich geht es auch hier um die Suche nach einem ästhetischen Äquivalent, doch der innere Aufruhr in der Auseinandersetzung mit dem Sujet ist deutlich spürbar.
Nur was, wenn die hehren Ideale auf die Überlebenswirklichkeit prallen? Was, wenn das spielerische Aufbegehren im Namen der Künste auf dem Markt als Blase zerplatzt? Von wegen „Strahlende Zukunft“ (DVA)! Gnadenlos konsequent exerziert Richard Yates das Scheitern, den Fall in das „gutbürgerliche“ Mittelmaß, gegen das sich sein stolzer Anti-Held immer so gewehrt hat. Am Ende steht das „Mitleben“ als peinlich empfundene Strafe, verzweifelt aufgehübscht durch raubeinige Plattitüden, die alles nur noch lächerlicher machen. Ein grandioses Stück episch-fatale Literatur, solange wir es nicht im eigenen Spiegel ertragen müssen…
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