Auf einen Waldarbeiter, der das Paar an jenem kalten Herbsttag 1811 am Kleinen Wannsee beobachtete, machten sie einen aufgekratzten Eindruck. Aus einem nahegelegenen Wirtshaus bestellten sie sich Kaffee. Schäkernd sah man sie am Ufer entlanglaufen, einander jagend wie kleine Kinder. Plötzlich hallten zwei Schüsse durch die Herbstlandschaft. Heinrich von Kleist hatte zunächst seine Geliebte, Henriette von Vogel, und dann sich selbst erschossen. Das Kleist-Jahr neigt sich mit dem 21. November seinem Ende zu, alle Stücke des wichtigsten deutschen Dramatikers wurden gespielt, Kleist wurde „gerockt“, und es wurden „Kleist WGs“ gegründet. Die Grabstätte am dicht bebauten Wannsee – eingepfercht zwischen Bausünden der Siebziger Jahre – wurde für 500.000 Euro (!) hergerichtet.
Klingt anstrengend und irgendwie nach schlechtem Gewissen. Ein Klassiker, der uns fremd geblieben ist, der sich nicht wie Goethe als weiser Menschenfreund vereinnahmen lässt. Einer, bei dem die Liebe ohne die kleinste Prise Ironie auskommt, vielmehr wahnhafte Züge trägt. Ein Psychologe, der die Katastrophen vorausahnt, der uns immer wieder zeigt, wie sich die verschwiegenen triebhaft-animalischen Anteile in uns ihren Weg bahnen und durch die Kulisse von Ethik und Kultur brechen.
Als Pflichtlektüre ist er uns auf der Schule verleidet worden. Aber man kann sich mit einigen wunderbar geschriebenen Texten Zugang verschaffen in den Kosmos seines Werks, in dem Zärtliches und Bestialisches so dicht beieinander liegen. Man kann den Weg vorne durchs Portal mit der großen Biographie des Literaturwissenschaftlers Günter Blamberger nehmen oder auf faszinierenden Nebenwegen ans Ziel gelangen. Etwa mit Adam Soboczynskis elegantem Essay „Kleist. Vom Glück des Untergangs“. Er entwirft das Bild eines Menschen, der nie den eigenen Ansprüchen gerecht zu werden glaubte, der zwischen euphorischen Größenfantasien und der bitteren Konfrontation mit den Realitäten seiner Zeit hin- und hergerissen wurde. Ein Mensch, mit dem es niemand lange auszuhalten vermochte.
Auch wenn Soboczynski Kleists überschwängliche Untergangsvisionen fälschlicherweise mit Glückszuständen verwechselt, so entfacht sein leichtfüßiger Spaziergang durch die Biographie des Dramatikers doch Lust auf Person und Werk, weil sie viel Nähe herstellt. „Michael Kohlhaas“, Kleists interessantester Novelle, vielleicht der schönsten, die die deutsche Literatur überhaupt hervorgebracht hat, ist Elisabeth Plessen in ihrem Roman „Kohlhaas“ auf den Grund gegangen, der jetzt nach Jahrzehnten wieder aufgelegt wird. Sie rekonstruiert die Geschichte des Rosshändlers, der ein Opfer der deutschen Bürokratie wird und im Zuge seines Rachefeldzugs halb Sachsen abfackelt, von der historischen Fallgeschichte aus, die auch Kleist verwandte. Plessen liefert ein großartiges Panorama der deutschen Renaissance und zeichnet Portraits von atemberaubend realistischem Zuschnitt. „Kohlhaas“ präsentiert sich als seltenes Beispiel für einen gelungenen historischen Roman, der immer Kontakt zu unserer Gegenwart hält. So öffnet sich der Blick auf ein Werk, das voller Leidenschaft und Dramatik steckt, feinste Seelenregungen freilegt und Stories enthält, die so viel Action besitzen, dass Hollywood daneben blass aussieht.
Adam Soboczynski: Kleist. Vom Glück des Untergangs I Luchterhand Literaturverlag I 96 S., 14,99 €
Elisabeth Plessen: Kohlhaas I Berlin Verlag I 319 S., 22 €
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