… er war ein freundlicher Mann und hatte eine lange Zeit gelebt, ohne geliebt zu werden, so wie alle Fremden … . Der Mann war Charley Utter, einstmals der beste Freund von Wild Bill Hickok. Ja, genau, Wild Bill, die sagenumwobende Gestalt des amerikanischen Westens. Aber viel interessanter als Wild Bill, jener knorrige Held mit Prostata-Problemen, der von einem armen Tropf erschossen wurde, stellt sich das Leben seines Freundes Charley dar. Pete Dexter hat es aufgeschrieben in seinem phänomenalen Roman „Deadwood“.
Dexter könnte man den zweifelhaften Titel des hierzulande meist unterschätzen amerikanischen Autors verleihen. 15 Jahre arbeitete er als Zeitungsreporter, hing den Job aber an den Nagel, nachdem er in Philadelphia mit knapper Not eine Schlägerei überlebt hatte und entwickelte sich in Hollywood zum erfolgreichen Drehbuchautor. 1988 erhielt er für „Paris Trout“ ̶ einem Roman, dessen epischer Atem in direkter Linie an die Arbeiten eines William Faulkner erinnert – mit dem National Book Award die höchste Auszeichnung, die ein Buch in den USA erringen kann.
„Paris Trout“ könnte man als Kriminalroman bezeichnen, so, wie man „Deadwood“ als Western bezeichnen könnte. Aber „Western“, klingt das nicht unglaublich langweilig? Wer liest schon Western? Dexter entwirft vielmehr im historischen Ambiente einer amerikanischen Kleinstadt das Psychogramm einer Gesellschaft, in der die unbarmherzigen Gesetze der Moderne herrschen. Das breite Spektrum von reich bis bettelarm wird entfaltet, die Wohlhabenden biegen das Recht wie sie es brauchen, in den Hurenhäusern werden die Mädchen dagegen wie Tiere gehalten. Die Gewalt nimmt eine sadistische Note an. Im Zentrum der zahlreichen Schicksale, die Dexter mit wunderbar detailreichen Bildern entwirft, die so realistisch sind, dass sie wie für die Leinwand gemacht scheinen, steht der ebenso freundliche wie zärtliche Charley Utter. Ein kluger Mann, dessen Körper die Frauen gerne unter ihren Händen spüren. Einer, der die Frauen liebt, ihnen aber nicht blind folgt. Einer, der immer auf Kurs bliebt in einem Strom prallen Lebens, der gleichwohl von Zynismus, Hass und rohem Verhalten durchsetzt ist. Stellenweise erinnert Dexters Roman in der Darstellung von Gewalt, Sexualität und historischem Realismus an Robert Altmanns Liebesgeschichte „McCabe und Mrs. Miller“.
Lustvoll präsentiert sich diese Prosa in jeder Zeile, aber Sujets wie die Liebe in all ihren seltsamen Wendungen oder der Humor mit seinen absurden Verrenkungen der Realität schwingen unter der Oberfläche des Erzählstroms immer mit. „Deadwood“, das ist ein Roman, aus dem man nicht mehr auftauchen möchte, wenn man sich einmal mit ihm eingelassen hat.
Pete Dexter: Deadwood. Deutsch von Jürgen Bürger und Kathrin Bielfeldt. Verlagsbuchhandlung Liebeskind, 448 S., 22 €
Hat Ihnen dieser Beitrag gefallen? Als unabhängiges und kostenloses Medium sind wir auf die Unterstützung unserer Leserinnen und Leser angewiesen. Wenn Sie uns und unsere Arbeit finanziell mit einem freiwilligen Betrag unterstützen möchten, dann erfahren Sie über den nebenstehenden Button mehr.
Ein Leben, das um Bücher kreist
„Roberto und Ich“ von Anna Katharina Fröhlich – Textwelten 06/25
Die Spielarten der Lüge
„Die ganze Wahrheit über das Lügen“ von Johannes Vogt & Felicitas Horstschäfer – Vorlesung 05/25
Starkregen im Dorf der Tiere
„Der Tag, an dem der Sturm alles wegfegte“ von Sophie Moronval – Vorlesung 05/25
Im Fleischwolf des Kapitalismus
„Tiny House“ von Mario Wurmitzer – Literatur 05/25
Ein Meister des Taktgefühls
Martin Mosebachs Roman „Die Richtige“ – Textwelten 05/25
Die Kunst der zärtlichen Geste
„Edith“ von Catharina Valckx – Vorlesung 04/25
Unglückliche Ehen
„Coast Road“ von Alan Murrin – Literatur 04/25
Über Weltschmerz sprechen
„Alles, was wir tragen können“ von Helen Docherty – Vorlesung 04/25
Erinnerungskultur
Gegen Vergessen und für Empathie – ComicKultur 04/25
Ein wunderbarer Sound
Natalia Ginzburgs Roman „Alle unsere Gestern“ – Textwelten 04/25
„Schon immer für alle offen“
Marie Foulis von der Schreibwerkstatt Köln über den Umzug der Lesereihe Mit anderen Worten – Interview 03/25
Verlustschmerz verstehen
„Als der Wald erwachte“ von Emma Karinsdotter und Martin Widmark – Vorlesung 03/25
Cool – cooler – Aal
„Egal, sagt Aal“ von Julia Regett – Vorlesung 03/25
Aus dem belagerten Sarajevo
„Nachtgäste“ von Nenad Veličković – Literatur 03/25
Der legendäre Anruf
Ismail Kadares Recherche über Stalin und Boris Pasternak – Textwelten 03/25
Die Geschichte der Frau
Ein Schwung neuer feministischer Comics – ComicKultur 03/25
„Afrika ist mehr als Hunger und Krieg“
Autor und Influencer Stève Hiobi über sein Buch „All about Africa“ – Interview 02/25
Zwei Freunde
„Am Ende der Welt“ von Anna Desnitskaya – Vorlesung 02/25
Internationales ABC
„A wie Biene“ von Ellen Heck – Vorlesung 02/25
Schrecklich komisch
Tove Ditlevsens Roman „Vilhelms Zimmer“ – Textwelten 02/25
Wem gehört Anne Frank?
„Immer wenn ich dieses Lied höre“ von Lola Lafon – Literatur 02/25
Aufwändige Abschlüsse
Comics, die spannend Geschichten zu Ende bringen – ComicKultur 02/25
Unsichtbare Krankheiten
„Gibt es Pflaster für die Seele?“ von Dagmar Geisler – Vorlesung 01/25
Mit KI aus der Zwangslage
„Täuschend echt“ von Charles Lewinsky – Literatur 01/25
Gespräch über die Liebe
„In einem Zug“ von Daniel Glattauer – Textwelten 01/25