Die neuesten Maßnahmen der katholischen Kirche versprechen für viele Menschen den lang ersehnten Fortschritt. Ende Februar lud Papst Franziskus zu einem Anti-Missbrauchsgipfel. Im Mai erließ er eine Meldepflicht für Missbrauchsfälle und die verpflichtende Errichtung von Meldestellen in allen Diözesen. Sogar die Lockerung des Zölibats steht derzeit im Raum.
Aber reicht das? Hinter uns liegen Jahrzehnte von vertuschten Missbrauchsfällen – begangen von Tätern, die nicht nur ihr Leben, sondern auch die Arbeit mit ihren Opfern unbehelligt fortsetzen konnten. Doch dafür möchte niemand die Verantwortung übernehmen. Der Blick der katholischen Kirche ist heute stets nach vorne gewandt. Es brauche Reformierungen und Präventionsmaßnahmen. Das ist richtig – und doch: Was ist mit all den ungeklärten Fällen? Wann werden die Täter zur Verantwortung und nicht einfach aus der Affäre gezogen?
Zwar bewegt sich in dieser Hinsicht etwas. So wurde im März 2019 der australische Kardinal Pell seines Amtes enthoben und zu einer Freiheitsstrafe von sechs Jahren verurteilt. Jüngst verurteilte der Papst die Täter aus den eigenen Reihen öffentlich als „Menschenschinder“. Doch es scheint als passiere all dies nicht aus Reue, sondern weil der Druck der Öffentlichkeit zu groß wird: weil Opferverbände aufschreien, weil Journalisten mehr und mehr Details zutage bringen. Vor 17 Jahren, als die ersten Missbrauchsfälle bekannt wurden, tat die Kirche diese noch als Einzelfälle ab. Doch irgendwann ließ es sich nicht mehr leugnen, beschmutzten die Beweise das katholische Unschuldsgewand, stellten klar, dass es sich nicht um ein national beschränktes Phänomen, sondern vielmehr um ein immanentes Problem in der gesamten katholischen Kirche handelt.
Echte Einsicht scheint es trotz aller Beweise bis heute nicht zu geben. So will der ehemalige Papst Benedikt den Grund der sexuellen Übergriffe innerhalb der Kirche in den Befreiungsschlägen der 68er Bewegung und Postern von halbnackten Paaren sehen. Dies erläuterte er in einem öffentlichen Schreiben im April. Ein Schreiben, das Papst Franziskus zumindest nicht abgelehnt und damit dessen Veröffentlichung mitgetragen hat.
So disqualifiziert sich die katholische Kirche bei der Aufklärung der Missbrauchsfälle erneut als moralischen Kompass. Anstatt Bischöfe anzuzeigen und einem Strafgericht vorzuführen, wurden Akten vernichtet. Anstatt sich auf die Seite der Opfer zu stellen, wurden die Täter geschützt. In Deutschland sollte Christian Pfeiffer 2011 einen unabhängigen Forschungsbericht zum Missbrauch in der Kirche anfertigen. Doch statt bereitwilliger Hilfe, soll ihm vom Verband der Diözesen Deutschlands, Schweigegeld in Höhe von 120.000 € angeboten worden sein.
Trotz aller Maßnahmen und Reformationsvorschlägen, die nun zur Diskussion stehen, bleibt es also fragwürdig, ob die Kirche sich selbst heilen und ihre strukturellen Defizite aufbrechen kann. Vielleicht liegt also ehemalige Ordensschwester und Missbrauchsopfer Doris Wagner nicht falsch, wenn sie sich in einem Interview fragt, „ob es am Ende doch nur eine menschliche Organisation ist, in der einige wenige Menschen, die sich unglaublich wichtig nehmen, ihre eigene Macht absichern – entgegen aller vernünftigen Überlegungen von anderen.“
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Aktiv im Thema
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aufarbeitungskommission.de | Die Unabhängige Kommission zur Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs untersucht sexuellen Kindesmissbrauch in BRD und DDR, hört Betroffene an und empfiehlt Präventionsmaßnahmen.
gegen-missbrauch.de | Der Verein informiert über Maßnahmen gegen Kindesmissbrauch und vernetzt Hilfsadressen.
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