„Knüpf das Buch an einem Faden auf. Schleudere es wild herum. Lass es gegen Wände knallen“. „Brenne ein Loch in die Seiten“. „Benutze das Buch als Fliegenklatsche“. „Fahre mit dem Fahrrad über die Seiten“. Gegen diesen offenen Aufruf zur Gewalt gegen Bücher sind kleine Missgeschicke wie Kaffeeflecken, Fingerabdrücke oder Eselsohren eher Lappalien im Umgang mit dem einstmals ehrfürchtig behandelten Wissensträger. Sicher, Bücher sind auch nicht mehr das, was sie einmal waren. Oftmals schnell zusammengeleimt, mit lieblosem Layout und schreiend geschmacklosen Titelillustrationen, laden sie nicht gerade dazu ein, sie als tröstende Begleiter bei sich zu tragen. Aber in den letzten Wochen scheint sich das Klima gefährlich zuzuspitzen, zur offenen Lynchjustiz rief die Agentur Mixtvision in ihrer Publikation „KeinBuch“ auf. Wie man ein Buch mit sadistischem Einfallsreichtum vergewaltigt, konnte man auf der Messe in Frankfurt in aller Ausführlichkeit betrachten.
Woher die Aggression, möchte man fragen. Erleben wir die Buchkultur nicht spätestens seit der Präsentation des iPad nur noch als papierenen Anachronismus? Aber vielleicht ist es ja gut, dass sich hier etwas entlädt, das wohl schon viel zu lange schwelte. Der Zorn über hehre Bildungsgüter, die weihevoll, aber ohne jeden Funken vitaler Auseinandersetzung zum Repräsentanten elitären Denkens herhalten mussten, die jene auszuschließen versuchen, die den Code der smarten, gebildeten Selbstdarstellung nicht beherrschen.
Aber vielleicht konnte der Aufruf zur Zerstörungsorgie im Grunde ja auch nur von denen angezettelt werden, die Bücher in Wahrheit lieben. Machen sie nicht alles das mit der 200seitigen Schwarte, was wir nie tun würden? Immerhin darf man es sich ja vorstellen. Auch wenn die Anweisungen in ihrem kategorischen Befehlston etwas uncharmant klingen. Vielleicht muss man ja einmal einem Buch den Rücken brechen, um alle Hemmungen zu verlieren, und damit der Weg frei ist, zur Liebe für das, was es gerade noch in diesen Tagen zwischen zwei Deckeln zu kaufen gibt, bevor dann das Papier vom Touchscreen abgelöst wird. Diejenigen, die tatsächlich nicht lesen, hegen im Grunde keine Aggression gegen Bücher, sondern empfinden eher eine Scheu gegenüber jenem seltsamen Gegenstand, in den sich ihre Mitmenschen so leidenschaftlich vertiefen können. Nein, sie sind es nicht, die auf ein Buch pinkeln, um sich nicht mehr von ihm genervt zu fühlen. Inzwischen hat die im Herbst noch originelle Idee auch schon wieder einen Bart. Dem „Kein Buch“ folgte die Fortsetzung „KeinBuch2“ und nun präsentiert der Verlag Antje Kunstmann mit Keri Smith‘ Fibel „Mach dieses Buch fertig“ das dritte bibliophile Schlachtvieh. Das Gute an Wutanfällen ist ja, dass sie auch wieder vergehen und sich die ersten Sammler schon mit Zweitexemplaren versorgen. Das erste, um den Anweisungen zur Buchzerlegung zu folgen, und das zweite, um es sich ins Regal zu stellen, denn grafisch sind die Bücher klasse gemacht.
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