Schon lange vor 21.30 Uhr sind die Sitzplätze in der Kölner „Bar Zum scheuen Reh“ am Westbahnhof vollständig besetzt – wer kein gemütliches Sofa ergattert, steht oder setzt sich mit Wein oder Bier auf den Boden.
An diesem Abend ist - wie jeden letzten Donnerstag im Monat - die Veranstaltung WDR 3 open: WortLaut live (zu Gast), in der es Prosa und Musik mit Moderation gibt - 50 Minuten konzentriertes Zuhören in entspannter Atmosphäre.Dies gelingt den Anwesenden mühelos: Gast des Abends ist der junge Autor Leif Randt, Jahrgang 83, der mit seinen Kurzgeschichten und mittlerweile zwei Romanen über die Mittzwanziger-Generation und der Oberflächlichkeit der Gesellschaft unter anderem mit dem Ernst-Willner-Preis 2011 ausgezeichnet wurde. Begleitet wird die Lesung von leichten, elektronischen Beats der jungen DJane Ada, welche sich zwischen die Moderations- und Leseparts schaltet.
Moderator Manuel Gogos lässt den jungen Autor sein neues Werk „Schimmernder Dunst über Coby County“ kurz vorstellen, um anschließend tiefer in die Thematik einzusteigen: der Protagonist Wim, Mitte zwanzig, Literaturagent, wohnt in der Stadt Coby County – vor 40 Jahren gegründet, in der vorwiegend junge Kreative leben. Die Stadt gleicht einem Wellness-Paradies, das sich der Beschreibung nach zwischen dem kreativen, großstädtischen Berlin und dem hippen, stylischen Los Angeles ansiedeln könnte.
Randts zweiter Roman liest sich als Persiflage eines durchgestylten Lebens in so genannten kreativen Zentren der westlichen Wohlstandskultur. Die Erzählung wechselt zwischen realen und surrealen Elementen, wobei Wim das Geschehen aus seiner Perspektive darstellt und dabei zeitgleich reflektiert und konsequent analysiert. Randt schreibt in trocken-ironischer und doch einfacher Sprache, ohne dabei ins Komische oder Oberflächliche abzugleiten.
Moderator Manuel Gogos moderiert den Abend mit pointierten Fragen am Thema Popliteratur entlang. Diesem viel gebrauchten, doch meist zu wenig definierten Label wird derzeit zugeordnet, was grob in die Kategorien „junge deutsche Autoren, Konsumgesellschaft, Medien, überzogen ironisch bis oberflächlich, kurzweiliger Unterhaltungswert“ fällt. Das dabei die Kategorie der anspruchsvollen Literatur wegfällt und Popliteratur in die Schublade der leichten Kost gesteckt wird, ist bedauerlich. Denn der Abend zeigt, was junge deutsche Literatur - wenn sie Popliteratur genannt werden soll – auch ist: anspruchsvoll und post-ironisch.
Die Frage Gogos’ an den Autor, ob er einen neuen Ton in der deutschen –Pop– Literatur treffe, ist berechtigt: der Autor lehnt die Kategorisierung der Pop- als reiner „Ironie-Literatur“ auch für sich ab. Autoren ohne Gemeinsamkeit und Bezug würden meist unter dieses Label gefasst. Die Bezeichnung „junge Literatur“ für seine Arbeit empfindet er als treffender.
Die Sendung WDR 3 open: WortLaut live startete im September 2006 mit Christian Kracht als Gast und feierte im Herbst 2011 seine 50. Folge. Konzept der Sendung sei es, so der zuständige Redakteur Adrian Winkler, jungen Autoren ein Forum zu geben. Und zwar denen, die in avancierter und experimenteller Weise versuchten herauszufinden, wo sich die jetzige Generation befinde. In einer knappen Stunde vermittelt die Veranstaltung anspruchsvoll und doch kompakt Wesentliches aus dem jeweiligen Werk des geladenen Autors. Auch musikalisch wird gezielt unverbrauchte Musik junger DJanes und DJs eingesetzt. Neben wechselnden Künstlern gehören Blaues Monster, Ada und COMA zu den DJs in residence. Mit der Bar „Zum scheuen Reh“ wurde ein atmosphärisch passender Ort gewählt, dessen Lage und Ausrichtung eine angenehme Luftigkeit bietet.
Kurz nach halb elf: Manuel Gogos moderiert ab, die leichten Beats vom DJ-Pult setzen ein und reißen die Zuhörer aus ihrer schmunzelnd-konzentrierten Versunkenheit. Dass Popliteratur nicht subversiv oder oberflächlich sein muss, zeigte sich an diesem Abend – Unterhaltung und Anspruch schließen sich nicht aus.
Am 26. April ist Helmut Kuhn mit seinem Roman „Gehwegschäden“ zu Gast – dieser ist außerdem Co-Autor von Murat Kurnaz, dem Deutschen in Guantanamo.
Bei den Gästen klingt die letzte Stunde angenehm nach – bis in vier Wochen wieder.
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