Heute lesen wir sie noch, aber morgen können sie schon verschwunden sein. Nur noch sieben Jahre wird es in den USA gedruckte Zeitungen geben. So jedenfalls sieht es der australische Zukunftsforscher Ross Dawson, wie die Akademie Berufliche Bildung der Zeitungsverleger in ihrem Newsletter berichtet. Dawson, der zu den umworbensten Beratern unserer Tage gehört, rechnet weiter: In neun Jahren hat das letzte Stündlein der Zeitungen in England geschlagen, in Deutschland wird es noch bis 2031 gedruckte Zeitungen geben – wobei man sich fragen darf, wie die dann wohl aussehen mögen –, und als letzte dürfen die Menschen in den heutigen Entwicklungsländern so um das Jahr 2050 noch ein Stück Zeitungspapier in Händen halten.
Man mag diese Entwicklung bedauern, und es regen sich auch Kritiker, die Dawson vehement widersprechen, indem sie ihm ungenaue Forschungsmethoden vorwerfen, wie der niederländische Professor für Journalistik Piet Bakker. Dawson argumentiert etwa mit dem Blick auf wirtschaftliche Entwicklungen wie den sinkenden Kosten für digitale Lese- und Kommunikationsgeräte. Man kann aber auch ein Auge auf die Gewohnheiten der Leser und die Strukturen der Informationsvermittlung werfen. Journalisten haben an Macht und Einfluss verloren, seit sie kein Monopol mehr auf die Information besitzen, und sie verfügen nicht mehr allein über den Zugang zur Quelle einer Nachricht. Was in der Welt geschieht, muss nicht mehr durch das Nadelöhr journalistischer Berichterstattung, um seine Anerkennung als Teil der Realität zu erhalten. Niemand ist so schnell wie ein Handy, mit dem der Tod einer Demonstrantin auf den Straßen von Teheran dokumentiert wird. Die Bilder sausen so schnell um die Welt, dass nicht einmal die Schrift mithalten kann, mit der sich das Abgebildete kommunizieren ließe. Und liegt nicht das eigentlich Erstaunliche der selbstgefälligen Machtdemonstration, mit der Wikileaks den Fetisch Information seiner letzten ethischen Illusion entkleidet hat, in der banalen Nachricht, dass Putin und Berlusconi einander in die Taschen mauscheln und die Amerikaner mit verächtlichem Blick auf den Rest der Welt schauen? Das sollen wir also nicht gewusst haben? Auf die kommentierenden Texte dazu muss man nicht bis morgen warten, und man muss auch die Zeitung nicht unten aus dem Briefkasten holen, das alles kann ich dem Netz entnehmen, ohne mich vom Stuhl zu erheben. Mit diesen Möglichkeiten und diesem Tempo kann keine Zeitung mithalten, und doch kommt das Lesen auf einem gedruckten Stück Papier einer Lust gleich, mit der das digitale Flimmern nicht mithalten kann. Und die Handybilder vom anderen Ende der Welt ersetzen mir nicht den Korrespondenten, den es nur solange gibt, wie ihn eine Zeitung bezahlt. Es zeigt sich sogar, dass in Zeiten spektakulärer Krisen nicht nur das Fernsehen mehr Zuschauer, sondern auch die Zeitungen mehr Leser haben. In den Monaten nach dem 11. September schossen die Zeitungsauflagen auf mehr als das Fünffache in die Höhe. Kluge politische oder kulturelle Analysen im Netz sind zumeist Ableger von Printveröffentlichungen, so dass man sich fragen darf, warum das gedruckte Blatt und der Internetauftritt nicht lukrativer koordiniert sein könnten. Es ist die Qualität, bestehend aus Recherche, Erfahrung und dem fein justierten kritischen Instrumentarium, mit dem die Zeitungen auch in Zukunft existent sein könnten. Freilich sieht die Realität mit verkleinerten Redaktionen, schlecht dotierten Honoraren und dem schielenden Blick auf kurzatmige Unterhaltungskost anders aus. Offenbar glaubt man immer noch, neben dem Netz mit den Mitteln des Netzes überleben zu können, anstatt sich gegen die gepixelten Informationsströme mit kompaktem Kontrastprogramm zu behaupten.
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