Ein Klavier auf einer Kabarett-Bühne, das ist schon lange nicht mehr das alleinige Markenzeichen des großartigen Hagen Rether. Dieser begann seine Bühnekarriere als Pianist im Programm von Ludger Stratmann, nutzt das Instrument in seinem Dauerbrenner-Programm „Liebe“ jedoch kaum noch zum Spielen, vielmehr putzt und wienert er es während seines Vortrags akribisch. Eine jüngere Generation von Kabarettisten entdeckt nun jedoch wieder das Musikkabarett für sich − allen voran Bodo Wartke und Matthias Reuter. Letzterer gastiert in diesem Jahr auf der trailer-Wortschatzbühne bei Bochum Total.
Kein Posaunenkabarett
Der 1976 geborene Oberhausener hat eine ganz eigene Erklärung dafür, dass Tasteninstrumente auf Kabarettbühnen gerade boomen: „Ich habe viele Lieder mit Klavier im Programm, weil man zur Blockflöte nicht singen kann. Das wäre ja mein Zweitinstrument: Blockflöte. Die habe ich an der Grundschule gelernt. Vielleicht geht das ja vielen anderen genauso? Ich weiß es nicht. Im so genannten JEKI-Schulunterricht („Jedem Kind ein Instrument“) gibt es ja jetzt viele Bläserklassen. Mal sehen, was das für eine Generation von Kabarettprogrammen hervorruft. Wenn der große Kabarett-mit-Posaune-Boom kommt, dann gucke ich mir das mit der Blockflöte vielleicht noch mal an. Bis dahin bleibe ich beim Klavier, weil mein Gitarrespiel so ist wie mein Skatspiel: nicht komplett ausgereizt.“
Musik ist wichtiger Bestandteil von Reuters Bühnenprogramm. Auch, wenn er seine Texte nicht in Liederform kleidet, sind seine Sprachspiele hochmelodisch. Der Frage, ob er sich eher als Liedermacher oder als Kabarettist sieht, weicht er aus: „Da sind die Grenzen ja fließend. Ich trete mit meinen Sachen jedenfalls genauso bei Liedermacher-Abenden wie bei Kabarettabenden auf. Ein Instrument ist jedenfalls nie bloß als „unterstützendes Utensil“ zu sehen, egal, was man damit macht. Der Stuhl vor dem Klavier ist aber für mich in jedem Fall ein unterstützendes Utensil, da ich sonst auf dem Boden sitzen würde.“
Weimarer Vorbilder
Wenn Matthias Reuter sich hinter sein Klavier setzt, spielt über sein Gesicht der Schalk eines Heinz Erhardt, doch seine Vorbilder sieht er noch früher. Sein Studium der Germanistik, Geschichte und Philosphie beschloss er mit einer Magisterarbeit zum Kabarett der Weimarer Republik. „Was meine Abschlussarbeit anbelangt, war´s so, dass es mir einfach am wenigsten langweilig erschien, etwas zu einem Thema zu machen, das mich wirklich interessiert. Und wirklich: das Kabarett der Weimarer Republik ist eine spannende Thematik gewesen, da – wie Werner Finck das geschrieben hat – besonders die Zeit zum Ende der Weimarer Republik eine war, in der Kabarett lebensgefährlich werden konnte.“
Da wundert es nicht, wenn der Mitt-Dreißiger einen anfangs harmlosen Supermarkteinkauf schildert, dessen zunehmend apokalyptischer Ablauf wie eine moderne Version des legendären „Überziehers“ seines Beinahe-Namensvetters Otto Reutter klingt (vielen dürfte die Interpretation von Peter Frankenfeld geläufiger sein, bei Youtube ist beides zu finden). Die Liebe zum Kabarett war also schon zu Studienzeiten ausgeprägt, aber an ein eigenes Bühnenprogramm dachte Reuter zu dieser Zeit noch nicht. „Zu dieser Zeit habe ich eher Comics gezeichnet und Musik gemacht. Ich hatte aber circa drei kabarettistische Stücke, die ich beim Folk Club in Oberhausen auch schon mal vor Publikum gespielt hab. Nach dem Studium habe ich dann 2004 die restlichen Stücke für ein Programm dazu geschrieben − auch in Ermangelung einer beruflichen Alternative, die besser zu mir passt.“ Dass er mit dieser Berufswahl den richtigen Weg eingeschlagen hat, beweisen die zahlreichen Auszeichnungen, die er bei Kabarett-Wettbewerben erzielen konnte sowie seine regelmäßige Präsenz im WDR-Hörfunk und anderen Medien.
Vom Reiz des Festivals
Mittlerweile gibt es von Reuter auch ein Buch. Unter dem Titel „Schrecken des Alltags“ versammelt es Kurzgeschichten mit Comics und Gedichten. Auch Stücke aus seinem Programm sind zum Teil im Buch enthalten. Dort kann man sie nachlesen, die sprachlichen Kleinode zu Terrorgefahr im ICE oder dem Kindergeburtstag im Autokino. Dort fehlt allerdings Matthias Reuters souveräner Umgang mit Rhythmus und Melodie, dieser besondere Charme, den sein Liveprogramm ausstrahlt.
Dem Auftritt bei Bochum Total, der ja immerhin vor einem großen Laufpublikum stattfindet und gelegentlich mit Wetterkapriolen zu kämpfen hat, sieht Reuter gelassen entgegen: „Vor kurzem war ich auf Zeche Zollverein. Da hat es in Strömen geregnet und das Publikum ist dann zu mir auf die Bühne gekommen, weil´s dort trocken war. Das könnte ich auch für Bochum anbieten.“ Außerdem hat er mit Kollegen bereits Erfahrungen zur Wortschatzbühne ausgetauscht: „Von den Schementhemen habe ich erfahren, dass die Bochumer sich bei der Wortschatzbühne eher mal hinsetzen, um sich das Programm dort anzugucken. Würde ich ja selber auch so machen. Insofern mache ich mir keine Sorgen. Außerdem kann man ja generell bei Laufpublikum zumindest schon mal sagen: et läuft.“
Seine Informanten zur trailer-Wortschatzbühne sind auch Matthias Reuters ganz persönlicher Tipp: „Gucken Sie sich die beiden Autoren Myk Jung und Klaus Märkert von den Schementhemen am 22.7. auf der Wortschatzbühne an! Es lohnt sich!“
Matthias Reuter: „Schrecken des Alltags“ WortArt bei Edel, 180 Seiten, 14,95 Euro
Hat Ihnen dieser Beitrag gefallen? Als unabhängiges und kostenloses Medium sind wir auf die Unterstützung unserer Leserinnen und Leser angewiesen. Wenn Sie uns und unsere Arbeit finanziell mit einem freiwilligen Betrag unterstützen möchten, dann erfahren Sie über den nebenstehenden Button mehr.
Ein Leben, das um Bücher kreist
„Roberto und Ich“ von Anna Katharina Fröhlich – Textwelten 06/25
Die Spielarten der Lüge
„Die ganze Wahrheit über das Lügen“ von Johannes Vogt & Felicitas Horstschäfer – Vorlesung 05/25
Starkregen im Dorf der Tiere
„Der Tag, an dem der Sturm alles wegfegte“ von Sophie Moronval – Vorlesung 05/25
Im Fleischwolf des Kapitalismus
„Tiny House“ von Mario Wurmitzer – Literatur 05/25
Ein Meister des Taktgefühls
Martin Mosebachs Roman „Die Richtige“ – Textwelten 05/25
Die Kunst der zärtlichen Geste
„Edith“ von Catharina Valckx – Vorlesung 04/25
Unglückliche Ehen
„Coast Road“ von Alan Murrin – Literatur 04/25
Über Weltschmerz sprechen
„Alles, was wir tragen können“ von Helen Docherty – Vorlesung 04/25
Erinnerungskultur
Gegen Vergessen und für Empathie – ComicKultur 04/25
Ein wunderbarer Sound
Natalia Ginzburgs Roman „Alle unsere Gestern“ – Textwelten 04/25
„Schon immer für alle offen“
Marie Foulis von der Schreibwerkstatt Köln über den Umzug der Lesereihe Mit anderen Worten – Interview 03/25
Verlustschmerz verstehen
„Als der Wald erwachte“ von Emma Karinsdotter und Martin Widmark – Vorlesung 03/25
Cool – cooler – Aal
„Egal, sagt Aal“ von Julia Regett – Vorlesung 03/25
Aus dem belagerten Sarajevo
„Nachtgäste“ von Nenad Veličković – Literatur 03/25
Der legendäre Anruf
Ismail Kadares Recherche über Stalin und Boris Pasternak – Textwelten 03/25
Die Geschichte der Frau
Ein Schwung neuer feministischer Comics – ComicKultur 03/25
„Afrika ist mehr als Hunger und Krieg“
Autor und Influencer Stève Hiobi über sein Buch „All about Africa“ – Interview 02/25
Zwei Freunde
„Am Ende der Welt“ von Anna Desnitskaya – Vorlesung 02/25
Internationales ABC
„A wie Biene“ von Ellen Heck – Vorlesung 02/25
Schrecklich komisch
Tove Ditlevsens Roman „Vilhelms Zimmer“ – Textwelten 02/25
Wem gehört Anne Frank?
„Immer wenn ich dieses Lied höre“ von Lola Lafon – Literatur 02/25
Aufwändige Abschlüsse
Comics, die spannend Geschichten zu Ende bringen – ComicKultur 02/25
Unsichtbare Krankheiten
„Gibt es Pflaster für die Seele?“ von Dagmar Geisler – Vorlesung 01/25
Mit KI aus der Zwangslage
„Täuschend echt“ von Charles Lewinsky – Literatur 01/25
Gespräch über die Liebe
„In einem Zug“ von Daniel Glattauer – Textwelten 01/25