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Aus „Es war einmal …“
Illustration: Albert Schindehütte

Junge Damen statt alter Hexen

24. Januar 2012

Die Brüder Grimm nach 200 Jahren in neuem Licht – Textwelten 02/12

Deutschlands Beitrag zur Weltliteratur, das sind noch vor Goethe, Schiller, Heine oder Thomas Mann die „Kinder und Hausmärchen“ der Brüder Jakob und Wilhelm Grimm. Vor 200 Jahren erschien der erste Band ihrer Sammlung, deren Geschichten rund um den Erdball von Generation zu Generation weitergegeben wurden und mit ihren Gestalten und Bildern in den archaischen Erfahrungsschatz der Menschheitsgeschichte eingegangen sind. Lange hat man sich die beiden als emsige Literaturwissenschaftler vorgestellt, die mit dem Block in der Hand durchs Land zogen und den Menschen auf dem Feld oder in der guten Stube lauschten und jedes Wort aus deren Mund aufmerksam dokumentierten.

Sie selbst haben als überzeugte Romantiker diesen Mythos der „urdeutschen“ Volksdichtung genährt, indem sie den Eindruck erweckten, als hätten ihnen neben der durch sie berühmt gewordenen Dorothea Viehmann zumeist ältere Frauen am Herd die Geschichten von „Rotkäppchen“, „Frau Holle“ oder dem „Eisenhans“ erzählt. Jetzt präsentiert der Wuppertaler Germanist Heinz Rölleke in der Anderen Bibliothek den Band „Es war einmal …“ mit dem provokanten Untertitel „Die wahren Märchen der Brüder Grimm und wer sie ihnen erzählte“. Und das waren offenbar keine Anwärterinnen auf den Titel der bösesten Stiefmutter im ganzen Land, sondern zumeist junge Töchter bürgerlicher Familien aus dem Freundeskreis der Grimms, die obendrein noch ziemlich hübsch gewesen sein müssen, wie die paraphrasierten Illustrationen von Albert Schindehütte verraten. Er hat die Porträts der Märchenzuträger und die Illustrationen des „Malerbruders“ Ludwig Emil Grimm schwungvoll bearbeitet, erfrischende Verve und Zügellosigkeit gehen da bruchlos ineinander über.

Jakob und Wilhelm Grimm publizierten die Namen der sie mitunter glühend bewundernden Damen nicht und sie nahmen es auch nicht so genau mit der Stoffsammlung. Über Zweite und Dritte ließ man sich informieren, ohne dass sie selbst sich zu größeren Reisen bequemten oder präzise Notizen angelegt hätten. Man erzählte sich vielmehr zu Hause im geselligen Salonkreis vom gefundenen Material. Rölleke versucht die Zuträgerinnen wie Dortchen Wild, Jeanette Hassenpfug, Ludowine von Haxhausen und manch andere begeistert am Märchenprojekt beteiligte Dame aus dem Schatten zu holen. Neben jeder Porträtskizze gibt es einen Text mit biographischen Details und den Märchen, die der jeweiligen der Sammlerinnen zugeordnet werden können.

Auch wenn die wissenschaftliche Leistung der Brüder eher bescheiden gewesen sein mag, umso beeindruckter darf man von ihrer Autorenschaft sein. Sie haben mit Finesse Dramatik, Atmosphäre und motivische Bezüge geknüpft und sie vermochten die psychologische Tiefe der Märchenstoffe ans Licht zu bringen. Neben dem in seinen Hintergrundinformationen faszinierend zu lesenden Prachtband von Rölleke und Schindehütte bereitet es deshalb Vergnügen, in Nikolaus Heidelbachs „Märchen der Brüder Grimm“ zu schauen. Weil Heidelbach in seiner Auswahl dem ruppigen Charme der frühen Texte von 1812 auch die eleganten späteren Überarbeitungen an die Seite stellt. Außerdem gehört die Präzision seiner Zeichnungen zum Besten, was in den letzten Jahrzehnten im Bereich der Illustration in Deutschland erschienen ist.

Günter Jürgensmeier wartet mit einer vollständigen Ausgabe von „Grimms Märchen“ auf, und die enthält darüber hinaus auch noch ein umfangreiches Märchenlexikon im Anhang. Illustriert wurde sie von der Holländerin Charlotte Dematons, einer außergewöhnlichen Zeichnerin, die sich großartig auf charaktervolle Gesichter versteht, nur verliert sie sich in diesem Märchenkompendium in süßlich gefärbter Kleinteiligkeit. Auf einen Realismus, der Kälte, Hunger und Erschöpfung der Kinder vorstellbar macht, setzt Markus Lefrancois in seiner Illustration von „Hänsel und Gretel“. Wer glaubt, dass die Märchenwelt keinen Bezug mehr zu unserer Gegenwart besäße, soll sich einmal vorstellen, wie sich ein Kind fühlen mag, das morgens zum ersten Mal im Kindergarten abgegeben wird. Einsamkeit und das Gefühl, mit den Eltern den inneren Kompass verloren zu haben, sind menschliche Gefühlssituationen, die nie an Aktualität verlieren werden.

Begeistert man sich für die Dramatik und den großen emotionalen Schwung, der in den Grimmschen Texten enthalten ist, so bietet Lorenzo Mattotti „Hänsel und Gretel“ als schwindelerregende Sinfonie in Schwarzweiß. Mattotti gibt der psychologischen Seite des Märchens Ausdruck, indem er die innere Bewegung der Kinder mutig ins Bild setzt. Die oftmals verschmähten Jubiläumsanlässe, hier sieht man, wie nützlich sie sein können, um wieder jene Neugierde in sich zu entfachen, mit der man das Universum der Grimmschen Märchen als Erwachsener noch einmal mit frischem Blick für sich entdecken kann.

Es war einmal... , hrsg. Von Heinz Rölleke | Illu. Albert Schindehütte | Die andere Bibliothek | 440 S.

Nikolaus Heidelbach: Märchen der Brüder Grimm | Beltz & Gelberg | 384 S.

Grimms Märchen, hrsg Günter Jürgensmeier | Illu. Charlotte Dematons | Sauerländer Verlag, 560 S.

Markus Lefrancois: Hänsel und Gretel | Philipp Reclam jun. | 32 S. | 16,95 €

Lorenzo Mattotti: Hänsel und Gretel | Carlsen Verlag | 32 S. | 19,90 €

Thomas Linden

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