Der Urkontinent ist verloren, wir besitzen nur noch seine Teile. Der deutsche Polarforscher Alfred Wegener brachte mit seiner Theorie der Kontinentalverschiebung die Wissenschaft auf die richtige Fährte, um die heutige Weltkarte verstehen zu können. Da Wegener aber kein Geologe, sondern ein Meteorologe war, gab man in Deutschland nicht viel um seine Forschungen. Jo Lendle erzählt in seinem neuen Roman „Alles Land“ vom Schicksal eines Mannes, der beweisen will, dass man am einsamsten Ort der Welt überleben kann. Die Einsamkeit zu bezwingen, das ist die vordringlichste Aufgabe eines Helden. Ein Held konnte Wegener nur noch in der Literatur werden, da er 1930 bei seiner dritten Grönlandreise im Eis zu Tode kam.
Lendle fasziniert dieser „Wikinger des Wissenschaftsbetriebs“, der den grönländischen Winter auf einer verlassenen Station durchstehen will. Dabei gleitet sein Gedankenstrom immer wieder zurück in die Welt seiner Familie, dem protestantischen Pfarrhaus, in dem er aufgewachsen ist, und zu Else, seiner bedingungslosen Gefährtin. „Was aus der Leere heraus entstehen kann“, das interessierte Jo Lendle, wie er jetzt bei der Vorstellung seines dritten Romans im Literaturhaus Köln erklärte. „Nichts an geistiger Anregung zu haben, für Monate, nur in die reizlose Eiswüste zu schauen, eine vollkommen gleiche, stille Landschaft zu betrachten“, das ist für ihn die Herausforderung. Im Roman streift sein Held die Grenzen zwischen Wahnsinn und Erleuchtung. Wobei Lendle kein Geheimnis aus der Tatsache machte, dass er Wegeners Charakter veränderte.
Dieser Forscher, dessen Neugierde auf die Welt ihn jede Form von Furcht abstreifen lässt, bietet sich nicht unbedingt als sympathische Identifikationsfigur an. Lendle gesteht, dass ihm dieses „Unrecht“ an der historischen Gestalt Wegeners Bauchschmerzen bereitet hat. Für den Roman ist es aber nicht von Bedeutung, er erzählt die Geschichte eines Mannes, dessen Hunger nach Wissen sich aus einer solch unstillbaren Neugierde speist, dass er den Dingen dieser Welt unmittelbar auf den Pelz rücken muss. Wegener streift die Furcht ab und so strebt auch der Roman unablässig voran. In einer klaren Prosa, die einen Ton anschlägt, der frei von den Färbungen des Zeitgeschmacks bleibt, entwickelt sich die Geschichte mit einer feinen Dynamik. Immer will man wissen, wie es weiter geht und tatsächlich belohnt Lendle seine Leser dann auch mit einem lebenssatten Ende.
Jo Lendle: Alles Land. DVA, 382 S., 19,90 €
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