Textwelten entstehen im Kopf. Zeichen für Zeichen, Buchstabe für Buchstabe setzen wir aneinander. Jeder einzelne Buchstabe wird mit der Geschwindigkeit von 50 Millisekunden in unserem Gehirn identifiziert und in Kombination mit dem nächsten gesetzt. Der Franzose Stanislas Dehaene, Professor am Collège de France für Experimentelle Wahrnehmungspsychologie, entschlüsselte jetzt einige der wichtigsten Geheimnisse des Lesephänomens. Interessant gerade für deutsche Leser, weil ihnen die Rechnung für jahrzehntelange Lehrmethoden präsentiert wird. Wir nehmen Worte eben nicht als ganze wahr, wie es uns die Ganzheitsmethode seit den Sechziger Jahren weiszumachen versucht, sondern setzen selbst als geübte Leser die Zeichen zu Silben aneinander, um sie dann in Laute zu übersetzen. Ein aufwändiger Prozess für das Gehirn, aber einer, der die grauen Zellen bis ins hohe Alter fit hält. Leser erkranken seltener an Alzheimer, und wenn die Krankheit ausgebrochen ist, verläuft sie bei ihnen langsamer. Ein Großteil der Legastheniker darf sich freilich auch dafür bedanken, von einem Schulsystem aussortiert worden zu sein, das seine Problemfälle selbst produziert.
Texte entstehen aber schon lange, bevor wir die Schriftsprache erlernen. Säuglinge beobachten bereits ihre Umwelt und vermögen dem Geschehen um sich herum zu folgen. Während sie andere beobachten, werden in ihrem Gehirn genau jene Areale aktiviert, die die erwachsene Person etwa zum Heben, Gehen oder Greifen benutzt. Spiegelneuronen ermöglichen diese Adaption in unserem Gehirn, auch Schimpansen verfügen über diese Nervenzellen, aber Menschenkinder fragen nach dem Motiv, warum jemand eine Handlung vollzieht. Das ist der Beginn aller Geschichten, die Fähigkeit einem Geschehen zu folgen, und sich die Frage zu stellen, was geht in einem anderen Menschen vor, welche Motive beschäftigen ihn. Tatsächlich stellten Wissenschaftler um die amerikanische Psychologin Nicole Speer von der Western Interstate Commission for Higher Education in Boulder Colorado bei Gehirnmessungen fest, dass unser Gehirn, während wir eine Geschichte lesen, den Situationen und Handlungen folgt, die in der Story vorkommen. Wir sind also höchst aktiv, während wir auf den Schicksalspfaden einer fiktiven Person wandern.
So stellen sich Textwelten wie Gefühlsteppiche dar, durch die ein Handlungsfaden führt, deren Farben aber von unseren Emotionen getränkt sind. Denken und Fühlen, das ist es, was uns in Atem hält, und deshalb sind begeisterte Leser auch keine Sonderlinge, vielmehr engagieren sie sich mit Herz und Hirn für die Dinge dieser Welt. Sie durchleben sie im Geiste, das heißt, sie empfinden und verstehen einen Text als ein Gebilde aus Bedeutungen. Das ist etwas anderes als Fernsehen und Internet, die uns den Eindruck vermitteln wollen, dass das Abgebildete dem entspricht, was es zeigt, so dass Bild und Gegenstand in eins fallen. Leser verstehen dagegen die Welt selbst als einen Text, als ein Beziehungsgeflecht, in dem eins aufs andere verweist und den es zu lesen lohnt, weil er unablässig Neues über uns und die Welt verrät, in der wir leben.
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