Es ist nicht besonders einfach, mitreißende Biopics über Schriftsteller zu drehen. Thomas Brasch (1945-2001) hat sicherlich alles andere als ein langweiliges Leben geführt. Als Sohn eines SED-Parteifunktionärs, der aufgrund seiner jüdischen Abstammung während des Zweiten Weltkriegs ins britische Exil ging, war dem jungen Thomas die Obrigkeitshörigkeit schon schnell verhasst. Er entschied sich gegen den Willen seines Vaters für eine Karriere als Schriftsteller. Erste dramaturgische Gehversuche an der Hochschule für Film und Fernsehen scheiterten an seiner Aufmüpfigkeit gegenüber dem Lehrpersonal. Als er während des Prager Frühlings die Liberalisierungsbestrebungen Dubčeks mit Flugblättern unterstützt, bringt ihm das eine dreijährige Gefängnisstrafe ein. Nach der Ausbürgerung Wolf Biermanns stellt er mit seiner damaligen Lebensgefährtin Katharina Thalbach ebenfalls einen Ausreiseantrag, der erstaunlicherweise sogar genehmigt wird. Mit seinem ersten Prosaband hat er auch im Westen Erfolg, selbst in die USA wird er eingeladen. Andreas Kleinert („Klemperer – Ein Leben in Deutschland“) hat Thomas Braschs ereignisreiches Leben in starken Schwarz-Weiß-Bildern nachgezeichnet, in die er einige Archivaufnahmen nahtlos einfügen konnte. Der fulminante Albrecht Schuch („Systemsprenger“) ist in fast allen Szenen des Films „Lieber Thomas” (Cinenova, Odeon) präsent und strahlt dabei auch stets eine große Körperlichkeit aus. Sein Thomas Brasch ist ein ruheloser Geist, ein Mann voller Widersprüche, die hier das Gerüst für die in sieben Kapitel untergliederte Geschichte liefern. Nicht nur mit Textpassagen aus dem Off und in Zitateinblendungen im Bild gelingt es Andreas Kleinert hier, die sprachliche Wucht Thomas Braschs zu packen. Er zeigt uns den Schriftsteller, der von einem Stasi-Spitzel als „Feind der DDR“ bezeichnet wurde, auch in ganz alltäglichen Unterhaltungen, als gewitzten Aphoristiker, wodurch Kleinert den Charakter und Intellekt Braschs geschickt abzubilden versteht.
Wie der ebenfalls diese Woche startende „Speer goes to Hollywood“ (OmU in der Bonner Kinemathek, ab 22.11. auch im Filmhaus) fußt auch James Erskindes Doku „Billie - Legende des Jazz“ (OmU in der Filmpalette und in der Bonner Kinemathek) auf 50 Jahre alten, unveröffentlichten Tonaufzeichnungen. Nur dass die von der Journalistin Linda Kuehl aufgenommenen Interviews mit Billie Holidays Weggefährten (u.a . Count Basie, Sylvia Syms, Tony Bennet) nicht der Entlarvung einer Lebenslüge dienen, sondern dem ungeschminkten Einblick in ein komplexes Künstlerleben. Eingebettet in (manchmal nachkolorierte) Konzertmitschnitte mit tontechnisch perfekt restaurierten Klassikern wie „God bless the child“ erzählt der Film von Billies Mut, sich gegen Rassismus und die von weißen Männern dominierte Musik-Branche durchzusetzen – aber auch von ihrem Drogenkonsum, ihren Affären mit beiden Geschlechtern und ihrem Hang zu gewalttätigen Männern. Ein bewegendes Porträt einer starken wie verletzlichen Frau.
Eloise (Thomasin McKenzie), Unschuld vom Lande und psychisch labil durch den frühen Tod ihrer Mutter, zieht nach London, um Design zu studieren. Doch die Stadt entspricht so gar nicht der heilen Welt, die sich Eloise erhofft hat. Also flüchtet sie zuerst aus dem Studentinnenwohnheim in die Mietwohnung der schrulligen Miss Collins (Diana Rigg, 1938-2020) und verliert sich dort in eine Traumwelt, die sie ihrem Lieblingsjahrzehnt ansiedelt: den 1960ern. Sandy (Anya Taylor-Joy), ihr Alter Ego dort, ist forsch und selbstbewusst. Gemeinsam erobern sie Soho. Doch auch dort lauern fiese Menschen, sprich: fiese Männer. Und so gerät auch der Wunschtraum bald zum Albtraum. Nach Zombie-Komödie („Shaun of the Dead“) und stylischem Thrill („Baby Driver“) macht Regisseur Edgar Wright in „Last Night in Soho“ (Cinedom, Cineplex, UCI, OmU im OFF Broadway) jetzt auf Horror. Zeitgemäß widmet er sich #metoo und schaut zurück auf die vermeintlich heile Glamourwelt vergangener Dekaden. Filmisch setzt der Regisseur dabei auf unterschiedliche Horrorformate der 60er bis 80er Jahre. Eine iinspirierte Fingerübung mit drei prima Hauptdarstellerinnen.
Der Alltag des öffentlich-rechtlichen Rundfunks wird in Zeiten von absoluter Beschleunigung, Social Media und der stetigen Informationsflut immer komplexer. Darauf muss auch das WDR-Politmagazin Monitor reagieren, als sie mitten in der Produktion ihres neuen Beitrags exklusive Informationen über den Rechtsextremisten Stephan E. erhalten, dem mutmaßlichen Täter des Mordes an CDU-Politiker Walter Lübcke. Miguel Müller-Frank und seine Kamerafrau Laura Emma Hansens geben uns in „Mit eigenen Augen” (Filmpalette) die Möglichkeit, mitten in der Hektik und dem Chaos dabei zu sein, während diskutiert, ausgehandelt und reagiert wird. Wir erleben den Druck, der auf der Redaktion lastet, die schneller sein muss als ihre Massenmedien-Konkurrenz und dennoch ihren Ansprüchen des kritischen investigativen Journalismus gerecht werden möchte.
Hitzesommer in Deutschland: Lara kann nicht mehr! Als junge Mutter wächst ihr die Arbeit über den Kopf, vom Freund gibt es kaum Rückhalt. Also lässt Lara eines Tages Partner und Baby wortlos zurück und reist nach Südtirol zum familiären Bauernhof. Doch dort wartet schon der nächste Konflikt: Ihre entfremdete Schwester führt den Hof, alte Wunden reißen auf. Nancy Camaldo gelingt mit ihrem Debüt „Windstill“ (Filmpalette) ein exzellentes Schwesterndrama, das geschickt gesellschatliche Rollenerwartungen und indivuduelle Exit-Strategien unter die Lupe nimmt.
Außerdem neu in den Kinos: Sigrun Köhlers und Wiltrud Baiers Rottweiler Fastnachts-Doku „Narren“ (Filmhaus), Daniel Howalds Doku „Who's afraid of Alice Miller?“ (OmU im Filmhaus und Odeon), Felix Charins Scripted-Reality-Parodie „Krass Klassenfahrt - Der Kinofilm“ (Cinedom, Cineplex, UCI), Til Schweigers Therapiedrama „Die Rettung der uns bekannten Welt“ (Cinedom, Cineplex, Rex am Ring, UCI) und Andrea Eckerboms Weihnachtsmärchen „Elise und das vergessene Weihnachtsfest“ (Cinenova, Rex am Ring).
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