Lydia Tár (Cate Blanchett), die erste Chefdirigentin der Berliner Philharmoniker, ist ein Star: Die Musikwelt liegt ihr zu Füßen, wegen ihres Talents und weil sie im Trend einer Abkehr von patriarchalen Hierarchien liegt. Doch dann begeht eine ehemalige Mitarbeiterin Selbstmord, und plötzlich werden unschöne Vorwürfe laut: Hat sich Tár missbräuchlichen Verhaltens schuldig gemacht? Todd Field macht daraus das vielschichtige Porträt einer schillernden Künstlerfigur und der Strukturen, in denen sie arbeitet. Dabei geht es um toxische Machtverhältnisse und aktuelle „Wokeness“-Debatten, aber auch um kreative Prozesse – und die Liebe zur Musik. „Tár“ (Cinenova, Odeon, Rex, OmU im OFF Broadway und in den Lichtspielen Kalk) ist eine emotionale Irrfahrt in die Untiefen des Klassik-Betriebs, befeuert von Klängen von Mahler, Elgar und der brillanten Filmmusik von Hildur Guðnadóttir.
Schon in Robert Bressons „Zum Beispiel Balthasar“ – einem Highlight der Filmgeschichte – stand ein geschundener Esel parabelhaft für das menschliche Leiden. Auch in Li Ruijuns viel gepriesenem Wettbewerbsbeitrag der letztjährigen Berlinale „Return to Dust“ (OmU im Filmhaus und in der Bonner Kinemathek) leben der von einer materialistischen Gesellschaft ausgestoßene Bauer Ma und seine Frau Guiying mit einem Esel unter menschenunwürdigen Zuständen am Rande der Wüste. Ihre von Verwandten arrangierte Ehe ist mehr eine Zweckgemeinschaft, denn eine von Intimität geprägte Beziehung. Doch langsam deutet sich in kleinen Gesten eine aufkeimende Zärtlichkeit an. Stimmungsvoll fotografiert und – ohne Pathos und Sentimentalität – berührend gespielt von Renlin Wu (Ma) und Hai-Qing (Guiying) entwickelt sich „Return to Dust“ zu einem Meisterwerk des humanistischen Kinos.
Die einst durch Christiane Felscherinow bekannt gewordene Gropiusstadt in Berlin-Neukölln im Jahr 2003: gewalttätige Väter, Freundschaften und Feindschaften, Drogen, überforderte Lehrer, Sommer ohne Geld fürs Freibad – all das bestimmt den Alltag der Jugendlichen Lukas (Levy Rico Arcos), Gino (Rafael Luis Klein-Heßling), Julius (Vincent Wiemer) und Sanchez (Aaron Maldonado Morales). Ein vergessener Schülerausweis löst im Sinne des Schmetterlingseffekts einen Tornado aus blutigen Nasen, Schulden, Einbruch und Chaos aus. Comedian und Autor der Buchvorlage Felix Lobrecht ist selbst in Gropiusstadt aufgewachsen und scheint die harte Wirklichkeit zu kennen. Verstärkt wird die authentische Atmosphäre in „Sonne und Beton“ (Cinedom, Cineplex, Rex, UCI) durch den Gangsterrap-Soundtrack unter Mitwirkung von Rappern wie dem Neuköllner Luvre47, die sogar gleich in verschiedenste Nebenrollen schlüpfen (genau wie Olexesh oder B-Tight). Was fehlt, sind bedeutungsvolle weibliche Charaktere, ansonsten fasziniert die gut getroffene fiktionalisierte Darstellung einer harten Lebensrealität.
Außerdem neu in den Kinos: Bernd Michael Lades Kammerspiel „Der Zeuge“ (Filmpalette), Michael B. Jordans Boxer-Sequel „Creed III: Rocky's Legacy“ (Cinedom, Cineplex, Rex am Ring, UCI), Hong-seon Kims Schocker „Project Wolf Hunting“ (Cinedom, Cinenova, Cineplex, UCI) und Till Endemanns Kinderabenteuer „Lucy ist jetzt Gangster“ (Cinedom, Cinenova, Cineplex, Metropolis, Rex, UCI).
Hat Ihnen dieser Beitrag gefallen? Als unabhängiges und kostenloses Medium sind wir auf die Unterstützung unserer Leserinnen und Leser angewiesen. Wenn Sie uns und unsere Arbeit finanziell mit einem freiwilligen Betrag unterstützen möchten, dann erfahren Sie über den nebenstehenden Button mehr.
Der Tod sind wir
Die Filmstarts der Woche
Kleinteilige Tonalität
Das Festival „Acht Brücken“ erforscht die Zwischentöne – Festival 04/24
Berührungsängste verboten
„Memory is not only past“ in der ADKDW – Kunst 04/24
In alter Blüte
Internationales Line-up beim Kunst!Rasen Bonn 2024 – Festival 04/24
Wiederentdeckt
Werke von Amerikas erster schwarzer Klassikerin in Essen – Klassik an der Ruhr 04/24
Die Seele geraubt
„Hello Dolly“ am Gelsenkirchener MiR – Musical in NRW 04/24
„Ich wollte die Geschichte dieser Mädchen unbedingt erzählen“
Karin de Miguel Wessendorf über „Kicken wie ein Mädchen“ – Portrait 04/24
Zwangloses Genießen?
Vortrag „Die post-ödipale Gesellschaft“ im Raum für Alle – Spezial 04/24
Das Unsichtbare sichtbar machen
Choreographin Yoshie Shibahara ahnt das Ende nahen – Tanz in NRW 04/24
Mut zur Neugier
„Temptation“ in den Ehrenfeldstudios – Theater am Rhein 04/24
Vom Arbeiterkind zum Autor
Martin Becker liest im Literaturhaus aus „Die Arbeiter“ – Lesung 04/24
Zauber der Großstadt
Nevin Aladağ im Max Ernst Museum Brühl des LVR – kunst & gut 04/24
Wege aus der Endzeitschleife
„Loop“ von Spiegelberg in der Orangerie – Theater am Rhein 04/24
Grenzen überwinden
„Frieda, Nikki und die Grenzkuh“ von Uticha Marmon – Vorlesung 04/24
Orchester der Stardirigenten
London Symphony Orchestra in Köln und Düsseldorf – Klassik am Rhein 04/24
Mehr als „Malen-nach-Zahlen-Feminismus“
„Ellbogen“ im Filmpalast – Foyer 04/24
Glaube und Wissenschaft
Louisa Clement im Kunstmuseum Bonn – Kunst in NRW 04/24
„Der Jazz wird politischer und diverser“
Jurymitglied Sophie Emilie Beha über den Deutschen Jazzpreis 2024 – Interview 04/24
Sichtbarkeit vor und hinter der Leinwand
Das IFFF fordert Gleichberechtigung in der Filmbranche – Festival 04/24
Sorgen und Erfahrungen teilen
Teil 1: Lokale Initiativen – Der Kölner Verein Rat und Tat unterstützt Angehörige von psychisch kranken Menschen
Absurde Südfrucht-Fabel
„Die Liebe zu den drei Orangen“ an der Oper Bonn – Oper in NRW 04/24
Besuch von der Insel
„Paul Heller invites Gary Husband“ im Stadtgarten – Improvisierte Musik in NRW 04/24
Im Sturm der Ignoranz
Eine Geschichte mit tödlichem Ausgang – Glosse
„Ich mache keine Witze über die Ampel“
Kabarettist Jürgen Becker über sein Programm „Deine Disco – Geschichte in Scheiben“ – Interview 04/24
Erwachsen werden
„Paare: Eine Liebesgeschichte“ von Maggie Millner – Textwelten 04/24