Jean Giraud hat unter seinem bürgerlichen Namen jahrzehntelang die realistische Westernserie „Leutnant Blueberry“ gezeichnet. Unter dem Pseudonym Moebius entfaltete er seit Mitte der 70er Jahre hingegen eine surreale Science Fiction-Welt, in der er grafisch und erzählerisch die klassischen Regeln der Comic-Kunst missachtete. Zusammen mit dem Filmemacher Alejandro Jodorowsky erlangte er Anfang der 80er Jahre mit dem „Incal“-Zyklus große Aufmerksamkeit. Kurz darauf führte Moebius ein Auftrag für Citroen zu einer weiteren Science Fiction-Serie, in der der Zeichner seine Freiheiten noch mehr ausreizte: Zwei Raumfahrer stranden auf einem kahlen Planeten, von wo sie geradewegs in einen paradiesischen Kosmos katapultiert werden, der sie ihrer Natur wieder näher bringt. „Die Sternenwanderer“ wirkt wie ein Experiment der Écriture automatique: Die Helden stolpern in ihrer Selbstfindungsreise von einer fantastischen Welt in die nächste. In seiner psychedelischen Zivilisationskritik verarbeitet Moebius auch sein Interesse an natürlicher Rohkosternährung. Auf dem Gebiet erscheint das bildgewaltige Epos aktueller denn je. Die Neuauflage ist in jedem Band mit Texten über und Interviews mit dem 2012 verstorbenen Zeichner angereichert (Schreiber & Leser).
Nicht minder fantastisch sind die Welten, in die Winsor McCay den kleinen Jungen Nemo vor über hundert Jahren schickte. Der Zeitungscomic „Little Nemo in Slumberland“ erschien von 1905 bis 1913 regelmäßig und wurde in den 20er Jahren noch einmal reaktiviert. Ästhetisch vom Jugendstil beeinflusst, freudsche Traumdeutung erahnend und dem Surrealismus vorgreifend, erzählt McCay in einer fortlaufenden Geschichte von den Träumen eines kleinen Jungen. Die bahnbrechende Serie des Comic-Neulings, der kurz darauf auch noch den jungen Animationsfilm revolutionierte, erscheint in einer Luxusausgabe in original Zeitungsgröße zusammen mit einem 150-seitigen Text von Herausgeber Alexander Braun, der Little Nemo und Winsor McCays weitere Werke in einen historischen Kontext einordnet und auch die Rezeptionsgeschichte berücksichtigt (Taschen).
Auch Richard McGuires „Hier“ von 1989 gilt als Klassiker. Zum 25-jährigen Jubiläum des sechsseitigen Comics hat McGuire das Thema zur über 300-seitigen Graphic Novel ausgebaut: Auf jeder Doppelseite ist eine Zimmerecke zu sehen. Jede Zeichnung unterscheidet sich in der Datierung, die von mehreren tausend Jahren v. Chr. bis in die nahe Zukunft reicht. Man sieht 90er-Jahre-Einrichtung, prähistorische Wildnis oder den Hausbau im 18. Jahrhundert. Und man sieht die Menschen ihrer Zeit. Zudem gibt es innerhalb des seitenfüllenden Panels kleinere Ausschnitte, die wiederum anderen Zeiten zugeordnet sind. So entsteht ein Kaleidoskop, das den Ort in den unterschiedlichsten Zeitebenen spiegelt, aber bei aller Brechung Geschichten erzählt. Ein großartiges und wunderschönes Erzählexperiment (DuMont). Die Reihe „Aya“, die Clément Oubrerie für Marguerite Abouet aufwändig umsetzt, erzählt vom Leben in der Elfenbeinküste. Das ungewöhnliche: Es geht nicht um Krieg, Hunger und Bildungsnot, sondern um den ganz normalen Alltag in den frühen 80er Jahren. Der zweite Sammelband „Leben in Yop City“ fasst wiederum drei Hefte zusammen und wechselt zwischen den Hauptfiguren in Paris, in der urbanen und der dörflichen Elfenbeinküste: Hier wird gestritten, gelacht, gearbeitet und gefeiert. Das pulsierende Leben strahlt aus jedem einzelnen Panel (Reprodukt).
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