Auch ohne Fernseher wusste Aristoteles vor über 2000 Jahren bereits, dass der Mensch „von allen besonders die Sinneswahrnehmung, die durch die Augen zustande kommt“ um ihrer selbst willen liebt. Ein Umstand, den sich besonders die Werbung zunutze macht. Denn egal wo wir auch hinschauen, überall hängen, kleben, leuchten, ruckeln und zuckeln die Bilder und Zeichen der Kaufanreizbotschaften. Und damit die Leute überhaupt noch hinschauen (wie auf die sogenannten Infoscreens in den Kölner U-Bahn-Haltestellen), werden die Werbebotschaften mit leeren, sinnlosen Scheininformationen: „Estelle von Schweden hat sich das Bein gebrochen“ und mäßig unterhaltsamen Zahlenrätseln: „Wie viele Stichwörter enthält der Deutsche Rechtsschreibduden? – Rund 145.000“ unterbrochen.
Unumstritten war das nie. Bereits 1928 schrieb Walter Benjamin von „Heuschreckenschwärmen von Schrift“ sowie „dichtes Gestöber von wandelbaren, farbigen, streitenden Lettern“, die sich auf die Augen der Zeitgenossen legen. Es hat schon was von Perfidie, wie die Werbeindustrie unsere Verliebtheit ins Visuelle immer und überall ausnutzt. Nur, in Zeiten von Algorithmen und digitalen Profilen, die mittlerweile besser als wir selbst wissen, was wir begehren, in Zeiten, in denen uns maßgeschneiderte Angebote über unsere kommunikativen Endgeräte unmittelbar und pausenlos erreichen, erscheint die Besetzung des urbanen Raums mit Marken und Logos als anachronistisches Ärgernis.
Hiergegen regt sich Widerstand. In Deutschland bislang lediglich in Berlin. Die Initiative „Berlin Werbefrei“ möchte Ausblicke auf Grünflächen, Straßenfluchten und auf die Stadt wieder öffnen. Zum Vorbild werden zwei Städte genommen, die geschafft haben, wovon die Initiative träumt: Zum einen die brasilianische Metropole São Paulo und zum anderen Grenoble in den französischen Alpen.
In São Paolo ist werbefreie Urbanität seit 2007 Realität. Binnen Jahresfrist verschwanden 15.000 Werbeplakatwände und 300.000 große Ladenfront-Beschriftungen. São Paulo ist seither die erste werbefreie Metropole weltweit.
Dabei war die Stadt bekannt für ihre vielen bunten Plakate: Großflächige Werbungen hüllten alle Gebäude ein, die renoviert wurden – und davon gab es einige. Fotos aus São Paulo, die vor und nach dem Verbot aufgenommen wurden, machen Eindruck: Wo farbige Schriften die Häuser überdeckten, erscheinen plötzlich kahle Fassaden. Seither könnte man den Eindruck einer Stadt im FKK-Zustand haben. Verbotskritiker warnten damals vor Verödung. Ohne die „Werbekunst“ würden sich die Leute langweilen, gar „einsam fühlen“. Doch 70 Prozent der Paulistanos gaben 2011 bei einer Umfrage an, dass sie das Verbot begrüßten. Die Stadt komme erst jetzt richtig zur Geltung. Den architektonischen Problemzonen, wie Brandmauern, Betonwände oder Baugerüsten messen sie scheinbar mehr Authentizität bei, als der angeblichen Werbekunst.
In Grenoble war es 2014 der frisch gewählte Bürgermeister Eric Piolle, der den Anstoß gab, grün und nicht kommerziell zu sein und Grenoble zur ersten werbefreien Stadt Europas machte. Die Stadt verbannte jegliche der 326 Werbeflächen aus dem öffentlichen Raum. Der Nacktheit wurde hier mit 50 neu gepflanzten Bäumen begegnet.
Ob mit oder ohne Bäume: Beide Fälle stellen eine sympathische Kampfansage an die visuelle Umweltverschmutzung durch Werbung dar. Aber auch an einen Gesellschaftsentwurf, der anonymen, transnationalen Konzernen zu viel Raum gibt. Es gibt Lärmschutzgesetze und Luftschutzparagrafen. Also, wo bleibt der Reklameschutz?
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