Ein in die Jahre gekommener Buchhändler aus Hannover, der sich dem Reitsport verschrieben hat, unterhält gemeinsam mit seiner Frau ein Pferd, das auf einem Hof vor der Stadt versorgt wird. Ihnen fällt ein Mädchen auf, das die Pferde hingebungsvoll striegelt und pflegt. Im Gespräch stellt sich heraus, dass Vanessa in der Schule nicht klarkommt und gerade dabei ist, die Hauptschule ohne Abschluss zu verlassen. Das gibt es doch nicht, denkt der Buchhändler Otto Stender. Er versucht, mit dem zu helfen, was er selbst am besten kennt: Bücher. Seine Frau und er beschließen, sich jede Woche mit Vanessa zu treffen, gemeinsam zu lesen und dann über das Gelesene zu sprechen. Das Mädchen macht schon nach kurzer Zeit riesige Fortschritte. Es bleibt auf der Schule, schafft den Abschluss. Inzwischen hat Vanessa Abitur gemacht und studiert Tiermedizin.
Ein Kind braucht einen Menschen, der verlässlich ist und mit dem es sprechen kann, ganz für sich alleine. Lernen, das funktioniert nur, wenn eine persönliche Beziehung zwischen zwei Menschen besteht, eine Qualität, die Sprachlabors und Internetkurse nicht bieten. Neurologen wissen das, Pädagogen wissen es auch, nur bis zu den Politikern hat es sich noch nicht herumgesprochen, so dass die Schulklassen immer noch bis zum Anschlag mit 30 oder mehr Schülern vollgestopft werden. Der Buchhändler hat dagegen Nägel mit Köpfen gemacht und eine Freiwilligen-Initiative gegründet. Jetzt nahm die Freie Volksbühne mit ihrer Vorsitzenden Astrid Völker die Idee auf und gründete „Lesementor Köln“, eine Initiative, die Otto Stenders Idee auch am Rhein umsetzen will. Auf Anhieb meldeten sich 300 Erwachsene für die ehrenamtliche Aufgabe, und 44 Schulen verkündeten sofort ihre Bereitschaft, an dem Projekt teilzunehmen. „Dass ihnen einfach einmal jemand zuhört, ist für die Kinder so wichtig“, erklärt Astrid Völker. „Über mindestens ein halbes Jahr hinweg treffen sich die Mentoren mit dem jeweiligen Kind in dessen Schule, weil Ort und Zeit so am besten für die Kinder zu organisieren sind“, fügt sie hinzu. Qualifiziert werden die Mentoren für ihre Aufgabe von der Volkshochschule. Die Kinder und die Erwachsenen lesen sich zweimal in der Woche etwa 45 bis 60 Minuten abwechselnd einen Text vor, den man gemeinsam aussucht und diskutiert. So erhalten die Kinder die Möglichkeit, nicht nur die Geschichte des Buches, sondern vor allem ihre eigenen Gefühle und Gedanken zu reflektieren. Das ist es, was das Lesen ausmacht, mit Hilfe der Geschichte eine Distanz zur Welt und zu sich selbst zu bekommen. Ein Vorgang, der neugierig auf sich und andere macht. Wird das Lernen auf diese Weise zu einer Herzensangelegenheit, stellen sich auch die schulischen Erfolge ein. So einfach ist das, nur Fernsehgucken kann man dabei nicht.
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