Es ist still im Zimmer, nur die Geräusche sind zu hören, die entstehen, wenn Haut mit Haut in Berührung kommt. Keiner von beiden spricht, zu sehr ist jeder von seiner eigenen Lust gefangen genommen. Für Worte bleibt kein Raum, wo die Leidenschaft einmal von Mann und Frau Besitz ergriffen hat. Dabei gestaltet sich die Beziehung zwischen Gina und Seán zunächst recht abgeklärt. Zumindest lässt das der leicht spöttische Unterton in Ginas Stimme vermuten, in dem sie uns ihre Geschichte erzählt. „Anatomie einer Affäre“, auch der Titel jenes neuen Romans von Anne Enright klingt cool, mit dem sie nahtlos an ihr „Familientreffen“ anknüpft. Mit diesem Roman hatte sie den Booker Preis gewonnen, die bedeutendste Auszeichnung der britischen Literaturwelt.
Gina hätte in diesem Meisterwerk schon mit von der Partie sein können, so klar und lebendig ist sie gezeichnet. Mit dreißig hat sie schon einige Illusionen abgehakt, ist verheiratet mit Conor, den sie mag, aber zu dem sie im Alltag der Ehe die innere Bindung verliert. Gina bekleidet einen guten Job in Dublin, sie wirkt in jeder Beziehung selbständig. Und so ruht auch ihr Blick gelassen auf Seán, als sie ihm zum ersten Mal bei einer kleinen Feier unter Freunden begegnet. Während sie ihn beobachtet, weiß sie noch gar nicht, dass dieser Blick der Beginn von allem ist. Auf einer Geschäftsreise, bei der sich die beiden zufällig über den Weg laufen, funkt es dann, als er ihr auf dem Hotelflur diesen „opulenten Kuss“ gibt, dem sie nicht widerstehen kann. Die Leidenschaft ist manchmal so schnell, dass unser Bewusstsein Mühe hat, Schritt zu halten.
Eine Liebegeschichte, aber Gina erklärt uns unmissverständlich: „... was wir miteinander trieben, und wie wir es bewerkstelligten, und wer was wohin steckte – diese Details gehen außer uns niemanden etwas an.“ Gleichwohl kommt der Sex nicht zu kurz, auch deshalb, weil er jene Intimität schafft, die die Frage nach seiner Bedeutung aufwirft. Wird diese Nähe reichen, um das Paar dann zusammen zu schweißen, wenn sie sich von ihren Partnern trennen? Seáns kleine Tochter Evie wird immer wichtiger, sie soll auch für Gina zum Prüfstein der Liebe werden. Anne Enright liefert uns eine Erzählerin, die sich nichts vormacht, deren Ironie immer den Kontakt zur Realität hält und dennoch die Liebe nicht ihres Zaubers entkleiden will. Eine schöne Balance, die der Roman der Irin auch in den Überschriften seiner Kapitel einlöst, die nach schmalzigen Love-Songs benannt sind. Aber bekanntlich liegt in den Tiefen des Trivialen auch stets ein Korn Wahrheit, das uns Gina Stück um Stück ans Tageslicht holt. Eine tolle Liebesgeschichte, wie sie unsere Zeit braucht, ohne Romantik, aber nie zynisch, im Gegenteil, ein tapferer Versuch, vom Wunder der Liebe das zu retten, was zu retten ist.
Anne Enright: Anatomie einer Affäre | Deutsch von Petra Kindler und Hans-Christian Oeser | DVA | 310 S., 19,99 €
Hat Ihnen dieser Beitrag gefallen? Als unabhängiges und kostenloses Medium sind wir auf die Unterstützung unserer Leserinnen und Leser angewiesen. Wenn Sie uns und unsere Arbeit finanziell mit einem freiwilligen Betrag unterstützen möchten, dann erfahren Sie über den nebenstehenden Button mehr.
Ein Leben, das um Bücher kreist
„Roberto und Ich“ von Anna Katharina Fröhlich – Textwelten 06/25
Die Spielarten der Lüge
„Die ganze Wahrheit über das Lügen“ von Johannes Vogt & Felicitas Horstschäfer – Vorlesung 05/25
Starkregen im Dorf der Tiere
„Der Tag, an dem der Sturm alles wegfegte“ von Sophie Moronval – Vorlesung 05/25
Im Fleischwolf des Kapitalismus
„Tiny House“ von Mario Wurmitzer – Literatur 05/25
Ein Meister des Taktgefühls
Martin Mosebachs Roman „Die Richtige“ – Textwelten 05/25
Die Kunst der zärtlichen Geste
„Edith“ von Catharina Valckx – Vorlesung 04/25
Unglückliche Ehen
„Coast Road“ von Alan Murrin – Literatur 04/25
Über Weltschmerz sprechen
„Alles, was wir tragen können“ von Helen Docherty – Vorlesung 04/25
Erinnerungskultur
Gegen Vergessen und für Empathie – ComicKultur 04/25
Ein wunderbarer Sound
Natalia Ginzburgs Roman „Alle unsere Gestern“ – Textwelten 04/25
„Schon immer für alle offen“
Marie Foulis von der Schreibwerkstatt Köln über den Umzug der Lesereihe Mit anderen Worten – Interview 03/25
Verlustschmerz verstehen
„Als der Wald erwachte“ von Emma Karinsdotter und Martin Widmark – Vorlesung 03/25
Cool – cooler – Aal
„Egal, sagt Aal“ von Julia Regett – Vorlesung 03/25
Aus dem belagerten Sarajevo
„Nachtgäste“ von Nenad Veličković – Literatur 03/25
Der legendäre Anruf
Ismail Kadares Recherche über Stalin und Boris Pasternak – Textwelten 03/25
Die Geschichte der Frau
Ein Schwung neuer feministischer Comics – ComicKultur 03/25
„Afrika ist mehr als Hunger und Krieg“
Autor und Influencer Stève Hiobi über sein Buch „All about Africa“ – Interview 02/25
Zwei Freunde
„Am Ende der Welt“ von Anna Desnitskaya – Vorlesung 02/25
Internationales ABC
„A wie Biene“ von Ellen Heck – Vorlesung 02/25
Schrecklich komisch
Tove Ditlevsens Roman „Vilhelms Zimmer“ – Textwelten 02/25
Wem gehört Anne Frank?
„Immer wenn ich dieses Lied höre“ von Lola Lafon – Literatur 02/25
Aufwändige Abschlüsse
Comics, die spannend Geschichten zu Ende bringen – ComicKultur 02/25
Unsichtbare Krankheiten
„Gibt es Pflaster für die Seele?“ von Dagmar Geisler – Vorlesung 01/25
Mit KI aus der Zwangslage
„Täuschend echt“ von Charles Lewinsky – Literatur 01/25
Gespräch über die Liebe
„In einem Zug“ von Daniel Glattauer – Textwelten 01/25