Wer geht bei dieser Kälte abends vor die Türe und dann auch noch in eine Kirche? Von wegen, die Kulturkirche war bis auf den letzten Platz besetzt, nachdem das Literaturhaus zu einer Lesung mit Sarah Kuttner geladen hatte, die ihr neues Buch „Wachstumsschmerz“ vorstellte. Jörg Thadeusz komplettierte als Moderator den Abend auf ideale Weise. Entlockte er doch der schreibenden Fernseh-Moderatorin ein interessantes Detail nach dem anderen.
Wer hätte zum Beispiel gedacht, dass Sarah Kuttner, die sich selbst als wohlhabend bezeichnet, so geizig ist, dass sie das Mineralwasser von der Lesung am liebsten mit in ihr Hotel nimmt, damit sie sich dort nicht aus der Minibar bedienen muss. Oder wie sehr sie gefroren hat, als sie sich für den Playboy ausgezogen hat. Sicher, gelesen hat sie auch, aber viel interessanter als ihren Text empfand sie ihre Erlebnisse vom Vortag, als sie bei einer offenbar nicht sehr guten Zahnärztin eine rabiate Zahnreinigung über sich ergehen lassen musste. Immer wieder unterbrach sie die Lesung, um von dieser schmerzhaften Behandlung, die ihr Wunden an Lippen und Zahnfleisch bescherten, zu berichten. Das Publikum zeigte sich denn auch entzückt von so viel spontan offerierter Privatheit.
Ihr Buch erzählt vom Weltschmerz der Dreißigjährigen, die plötzlich feststellen, dass schon allerhand Zeit ins Land gegangen ist und sie sich doch nicht richtig erwachsen fühlen. Ihre Heldin Luise ist eine Nervensäge, von niemandem lässt sie sich zufriedenstellen und sie attackiert ihr Umfeld gnadenlos mit ihrer insistierenden Sinnsuche. Auch Luises Freund Flo ist ihr dabei keine Hilfe. Das Paar sucht jedoch nach einer ersten gemeinsamen Wohnung, der Ernst des Lebens klopft also schon mit Macht an die Tür. Sarah Kuttner gelingen schöne Szenen, wenn Luise - die als Herrenschneiderin arbeitet - etwa mit einem älteren Kunden über das Eheleben der späten Jahre plaudert. Ihre Metaphern sind klug gewählt und die kuttnersche Prosa perlt in den besten Passagen des Romans munter dahin. Sarah Kuttner kann schreiben, wenn sie sich mitunter auch in Reflexionen verheddert, die über ihre ungeduldige und ein wenig desorientierte Heldin langsam hereinbrechen. Dieses Nachdenken über sich, das aus einem allgemeinen Zustand der Langeweile entspringt, bleibt inhaltlich dürftig. Aber der Roman zeigt auch, dass sich Sarah Kuttner seit ihrem Debüt „Mängelexemplar“ entwickelt hat. Von ihr wird noch manches zu lesen sein und ihr Publikum zeigt sich schon heute begeistert.
Sarah Kuttner: Wachstumsschmerz. S. Fischer Verlag, 284 S., 16,99 €
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