Wenn David Lynch an seine Kindheit in den fünfziger Jahren denkt, erinnert er sich, dass „das Fernsehen damals schon bewirkte, was das Internet heute noch verstärkt: Es machte alles gleich.“ Genau das kann man von seinen Filmen nicht sagen, sie waren so schockierend anders, dass die Menschen aus den Kinos flüchteten, weil ihnen Lynchs visionäre Filme in ihrer Abgründigkeit unerträglich schienen. Das Erwachen aus einem Alptraum kann eben auch ein Versuch sein, sich in die Realität zu retten.
„Room to Dream“ lautet der Titel seiner Biografie, womit das Kino gemeint ist, das der Amerikaner nur noch als Relikt einer vergangenen Zeit betrachtet. Der deutsche Titel „Traumwelten“ ist nicht schlecht gewählt. Lynch liebt das Tagträumen und er verbindet es mit den Erinnerungen an eine glückliche Vorstadtkindheit in Idaho. Was nicht heißt, dass sie nicht durchsetzt von traumatischen Erfahrungen gewesen wäre. Wie etwa der nächtlichen Begegnung mit einer verprügelten nackten Frau auf der Straße, die David und seinen Bruder tief verstörte.
Solche Szenen finden sich später etwa in „Blue Velvet“. Das Buch klärt uns über noch viel mehr auf. Unendlich viele Interviews wurden mit Weggefährten geführt. Isabella Rossellini berichtet, wie sie den barschen Dennis Hopper in der Skandalszene des Films mit dem Blick auf ihre Vulva ein für alle Mal zähmte. Anekdotisches Wissen, das nun endlos kolportiert werden kann. Eine symptomatische Stelle für das Buch, dessen Konzept Doppelkapitel vorsieht. Zunächst resümiert die Kritikerin Kristine McKenna mit unerhörtem Fleiß Fakten und Interviews zum Werk, dann erzählt Lynch selbst von Filmprojekten wie „Wild at Heart“oder „Lost Highway“. Das ist immer der interessantere Teil, weil er unmittelbar die Farben der Emotion enthält.
Gleich zu Beginn erklären die beiden, dass sie nicht in die Frage nach der Bedeutung der Arbeiten einsteigen wollen. Tatsächlich halten sie sich nicht immer an diesen Vorsatz und da, wo sie ihn brechen, kommen eher kümmerliche Ergebnisse zustande. Um die philosophischen Interpretationen eines Slavoj Zizek wird nicht nur ein weiter Bogen gemacht, sein Name kommt nicht einmal im Anhang vor.
Das Ergebnis ist ein pralles Kompendium mit detaillierten Infos zur Produktion, das viele Wiederholungen enthält. Aber weil man sich zum Beispiel nur mit der technischen Seite des Filmemachens beschäftigt, wird das eigentliche Genie von David Lynch nicht berührt. Zum Beispiel, dass er in der Welt des immer Gleichen die verdrängte Seite des amerikanischen Lebens verortet. Dass diesem Unterfangen eine universelle Dimension innewohnt, indem er das Un-Heimliche in der Angst vor dem Realen aufspürt, gibt Lynch seinen Rang als Zeitdiagnostiker. Immer ist es die Begegnung mit dem Körper, die die Angst entweder vor Nähe oder vor der erwarteten Gewalt auslöst. Dort sitzt unser Trauma, das Lynch akribisch mit Sound, Licht und Bild hervorholt. Auch wenn das Buch keinen Anlass zur Auseinandersetzung mit diesem Werk in seiner Andersartigkeit bietet, so ist es für Lynch-Fans aufgrund seiner Informationsfülle ein unverzichtbarer Schatz.
David Lynch und Kristine McKenna: Traumwelten | Heyne Encore | 766 S. | 26 €
Aus den Tiefen der Seele
Poetica 5: Aris Fioretos und Denis Scheck im Sancta-Clara-Keller – Literatur 02/19
Das Drama der Erinnerung
Annie Ernaux arbeitet ein Kindheitstrauma literarisch auf – Textwelten 02/19
Kochbücher mal anders
Vladimir Sorokin mit der Dystopie „Manaraga“ im Literaturhaus – Literatur 01/19
Vier Jahre im Versteck
Erich Hackl zeigt, dass es während der Nazizeit auch anders ging – Textwelten 01/19
Zwischen Höhenflug und Tiefsinn
Die Poetica findet zum 5. Mal statt – das Besondere 01/19
Zeiten des Untergangs
Helene Hegemann mit „Bungalow“ beim Literarischen Salon – Literatur 12/18
Die Stadt hat Zukunft
Richard Sennett beschreibt die Lust an der „offenen Stadt“ – Textwelten 12/18
Das Verschwinden der Leser
Für den Buchhandel wird es ernst – Textwelten 07/18
Sind wir eine Nanny-Republik?
Frank Überall geht der deutschen Lust am Verbot nach – Textwelten 06/18
Kampf zwischen Gegenwart und Vergangenheit
Peter Stamm beschreibt, wie man Opfer der eigenen Geschichte werden kann – Textwelten 05/18
Zwischen Herz und Verstand
Ruth Klüger bietet direkten Zugang zur die Welt der Lyrik – Textwelten 04/18
Unheimlich schönes Dorfleben
Ein Roman von Jon McGregor, funktioniert wie fünf Fernsehserien auf einmal – Textwelten 03/18
Schatz gefunden
Buch und Ausstellung zu Texten und Fotos von Georg Stefan Troller – Textwelten 02/18
Her mit der dritten Toilettentüre
Wie der Neoliberalismus mit Political Correctness die Gesellschaft spaltet – Textwelten 01/18
Genies statt Automaten
Vögel verschwinden aus unserer Wahrnehmung – Textwelten 12/17
Demütigung
Ein Buch über den sozialen Tod und was man ihm entgegensetzen kann – Textwelten 11/17
An fremden Honigtöpfen naschen
John Banvilles „Die blaue Gitarre“ – Textwelten 10/17
Ein notwendiger Roman
Affinity Konar überrascht mit ihrem Meisterwerk „Mischling“ – Textwelten 09/17
Liebe am Mittag
Graham Swift zeigt uns, wie Literatur funktioniert – Textwelten 08/17
Ohnmacht der Bilder
Die Entdeckung der bizarren Liebesgeschichte eines Fotografen – Textwelten 07/17
Die Hölle im Vorort
Wozu sind Menschen fähig – im Guten wie im Bösen? – Textwelten 06/17
Kälte macht erfinderisch
Die Geburt unserer Gesellschaft aus der Kleinen Eiszeit – Textwelten 05/17
Auch Gott hat herumgemurkst
Giorgio Agamben würdigt unsere Arbeitshemmung – Textwelten 04/17
Wie riecht ein Text?
Der Duft als geheimer Sinnstifter unseres Lebens – Textwelten 03/17
Wofür eigentlich noch Literaturhäuser?
Eine Institution im Wandel – Textwelten 01/17