„Nackt“ ist die Protagonistin in einem doppelten Sinne, das bemerkt sie, als sie mit dem Gedanken spielt, sich Hilfe bei ein paar Männern zu suchen, die sich auf dem nahen Parkplatz aufhalten. Ihr wird jedoch klar, dass man sich in der Kleinstadt schon bald erzählen wird, dass sie nackt war, man wird denken, dass sie vergewaltigt wurde. Diese Vorstellung würde in Zukunft niemand mehr aus dem Kopf bekommen, auch ihr Mann nicht und ihre Kinder würden in der Schule deshalb gehänselt werden. Plötzlich wird ihr bewusst, dass man alles verlieren kann, jede gesellschaftliche Identität und selbst die Beziehung zu den nächsten Menschen. Die Gewalt vermag alles mit einem Schlag zu zerstören. Wir erleben, wie sie im Schein der Dämmerung geduckt durch Straßengräben und Gärten unentdeckt nach Hause zu kommen versucht.
Eine Sammlung großartiger Geschichten, die ruppig und zart, mit einer wunderbar hellsichtigen Sprache von Männern – aber vor allem von Frauen und Kindern erzählt. Nordamerikas pointierte Erzähltradition hat seit den Tagen von Hemingway und Faulkner nichts an Kraft, Sinnlichkeit und formaler Brillanz verloren. Während Oates ihrer Prosa einen aufgerauten Realismus, ja, eine kunstvolle Unfertigkeit beschert, präsentiert sich die Kanadierin Alice Munro als teuflisch charmante Meisterin der Komposition. Leise kommen ihre Stories daher, aber letztlich ziehen sie einem auch in jedem der zehn Erzählungen ihres neuen Bandes „Zu viel Glück“ den Boden der Erwartung unter den Füßen weg. Wer ahnt schon, dass sich die ältere Dame, die einem Priester die Geschichte eines „Kinderspiels“ erzählen will, das Geständnis eines Mordes im zarten Alter von neun Jahren entlocken lässt? Wer vermag schon eine so unerhört subtile Erotik zu entfalten wie Munro in ihrer Erzählung „Der Grad von Wenlock“, in der wir miterleben, wie sich eine selbstbewusste junge Frau überreden lässt, einem älteren Mann nackt vorzulesen? Jeder Satz entpuppt sich als ein Stein im Gebilde einer verblüffend dramatisierten Geschichte. Was bleibt, ist blankes Erstaunen darüber, dass es solch erfahrungssatte, makellose Kompositionen im Zeitalter digitaler Beliebigkeit überhaupt noch gibt.Neben Oates und Munro, deren Namen stets aus dem Getuschel herauszuhören sind, das vor der Vergabe des Nobelpreises nervös die Runde macht, muss sich Tobias Wolff nicht verstecken. „Unsere Geschichte beginnt“ erzählt von den Lügen, die aus Scham in die Welt gesetzt werden oder den Küssen, die einen nach Jahrzehnten noch gepackt halten. Auch Wolff konfrontiert uns mit bitteren Wahrheiten, die nicht ausgesprochen werden dürfen, aber mit der Literatur einen Weg in die Wirklichkeit finden. Wolffs Sprache funkelt nicht so erregend, wie die der Damen, aber auch in ihr verschränken sich Fühlen, Nachdenken und Staunen zu einem dichten Text, der einen verändert zurücklässt.
Joyce C. Oates: Die Lästigen. Deutsch v. Susanne Röckel. Eichborn Verlag, 382 S., 32 €
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