Wenn er nicht einen so fröhlichen, ja fast glücklichen Eindruck machen würde, könnte man meinen, dass Peter Kurzeck mit dem Fluch eines peinigenden Erinnerungsvermögens geschlagen sei. „Ich dachte schon als Kind, ich darf nichts vergessen und bin zuständig für die Einzelheiten der Welt. Denn was vergessen ist, das ist verloren“, sagt er und denkt dabei an sein Schicksal als Vertriebenenkind, dass die böhmische Heimat verlassen musste. Aber die neue Heimat im hessischen Staufenberg hat sich gleichfalls tief in die Erinnerung des heute 67-Jährigen eingeschrieben.
Kurzeck kann nichts liegen lassen, jedes Detail muss im großen Strom seiner Romanprosa mitgeführt werden. So nahm das Manuskript zu seinem neuen Buch „Vorabend“ mit über 1.000 Seiten ein solches Ausmaß an, dass er selbst es nicht mehr abschreiben konnte. Diktiert hat er es über fast drei Monate im Literaturhaus Frankfurt in die Hände von freiwilligen Helfern, die sich aus ganz Deutschland so zahlreich einfanden, dass viele wieder fortgeschickt werden mussten. Aber jetzt liegt das prachtvolle Werk in der gewohnt soliden Ausstattung vor, die der Stroemfeld Verlag seinen Publikationen gönnt.
Wovon erzählt dieses Buch? Vom Leben, von einer Vergangenheit, die in ihrer Schönheit und Bitterkeit durch Kurzecks Schreiben ein Teil der Wirklichkeit bleiben kann. Keine großen Verstrickungen, aber wundervolle kleine Begebenheiten. Etwa die Sonntagnachmittage im Winter, wenn die Kinder aus den Nachbarorten aus allen Richtungen über die Felder und Wege zum Kino kamen. Selbst diejenigen, die die 70 Pfennige Eintritt nicht aufbringen konnten. Wenn der Duft eines einzigen Tropfen Parfüm hinter dem Ohr eines Mädchens im Leben der Jungen eine Erinnerungsspur hinterlassen konnte, die nie mehr erlischt. „Man war verliebt, wusste aber noch nicht in wen“, erzählt Kurzeck. Es finden sich Passagen von schreiender Komik, wenn er etwa einen Friseurbesuch rekonstruiert. Schreckliche Momente, wenn die Bilder von den Angriffen der Tiefflieger an die Oberfläche drängen. Dann erzählt Kurzeck wieder verträumt von der Fahrt auf einem Heuwagen und er resümiert aus heiterem Himmel mit dem Satz: „Mir hat der Fortschritt eigentlich nichts gebracht, die Flugzeuge bedeuteten mir nie etwas im Vergleich zu dem leichten Schaukeln oben auf dem Heuwagen, wenn einen die Äste der Bäume streiften, der Blick in den Himmel, die ersten Giebel des Dorfes tauchen auf...“. In den kreisenden Bewegungen des mündlichen Erzählens breitet Kurzeck sein Erinnerungsgold aus. Manches Detail und manche Wiederholung wäre durchaus entbehrlich, aber dieser Rhythmus ist Teil der mäandernden Struktur seiner Prosa. Für die braucht man Geduld, aber der Suchtfaktor stellt sich unweigerlich ein. Kurzeck verzaubert für alle Zeit.
Peter Kurzeck: Vorabend. Stroemfeld Verlag. 1022 S., 39,80 Euro
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