Wenn die New York Times von einem Roman behauptet, er sei „Moderne Pornografie, abscheulich, ekelhafter Dreck“, dann muss schon ein handfester Skandal ins Haus stehen. Fast 15 Jahre liegt das literarische Erdbeben zurück, das Amy M. Holmes mit ihrem Roman „Das Ende von Alice“ in den USA auslöste. Den Journalisten stand der Schaum vor dem Mund, während das Buch von Autoren wie Will Self gefeiert und seine Autorin von Zadie Smith als „echte Heldin“ gepriesen wurde. Wieder einmal zeigte sich, welche mediale Aufmerksamkeit das Thema Sex auszulösen vermag, zumal sich Holmes nicht vom bigotten Regelwerk der Political Correctness einschüchtern ließ.
In Deutschland traute sich bisher kein Verlag an den hochexplosiven Stoff heran. Der S. Fischer Verlag und Kiepenheuer & Witsch bereiteten jedoch behutsam das Terrain vor, etwa mit Holmes' Romandebüt „Jack“, das den Deutschen Jugendliteraturpreis gewann. Einen Bestseller bescherte sie dem Verlag mit ihrem jüngsten Roman „Dieses Buch wird ihr Leben retten“. Unter dem Titel „Die Tochter der Geliebten“ lieferte Holmes' die literarische Auseinandersetzung mit ihrer eigenen Adoption, von der sie erst mit 31 Jahren erfuhr. Ein Essay, der unter die Haut geht.
„Das Ende von Alice“ wird aus der Perspektive von Chappy erzählt, einem pädophilen Kindermörder, der seit 23 Jahren im Gefängnis sitzt. Neben den Szenen aus der Gefängniswelt, die zum Eindrucksvollsten gehören, was man zu diesem Sujet überhaupt lesen kann, erinnert sich der alte Mann an seine Straftat und führt einen Briefwechsel mit einer 19Jährigen, die einen Nachbarsjungen verführen möchte. Verführt werden auch die Leser, mit Tricks, die so alt sind wie die Literatur selbst, die aber gleichwohl nur funktionieren, wenn sie mit einer solchen Meisterschaft angewendet werden, wie sie Amy M. Holmes hier demonstriert. Denn obwohl der alte, vom Stumpfsinn des Gefängnisses gebrochene Chappy als Erzähler ausgewiesen wird, verrät die unerhörte Imaginationskraft und vor allem die Detailgenauigkeit, mit der Chappy aus der Welt der weiblichen Teenager berichtet, dass hier niemand anderes als die Autorin selbst spricht. Sie kennt die Welt der heranwachsenden Töchter auf eine Weise, wie sie sich dem alten Knaben im Knast niemals eröffnen würde. Ihre Erotik besitzt ironische Frische und enthält keine ranzigen Altherrenfantasien.
Die Aufgabe der Literatur besteht darin, uns einen Blick in die Innenwelt einer fremden Person zu eröffnen, radikaler als die Amerikanerin kann man dieses Unternehmen kaum betreiben. Mit jedem Buch, das wir lesen, nehmen wir die Stimme eines fremden Menschen in uns auf, wir erfahren etwas über ihn und über uns selbst. Der Blick in die Welt von Mördern ist uns gar nicht so fremd, lebt doch nicht alleine die Kriminalliteratur von ihm. Die Realität eines Pädophilen ist dagegen schon krass. Aber obwohl Holmes in das Verlies von Chappys Bewusstsein hinabsteigt – man mag sich gar nicht vorstellen, wie sie das während des monatelangen Schreibens ausgehalten haben mag – setzt keine direkte Identifikation mit ihm ein. Außer in seinen Kindheitserinnerungen, die von Einsamkeit und der düsteren Beiläufigkeit des Missbrauchs durch die Mutter geprägt sind, bleibt man stets auf Distanz zu diesem Erzähler. Holmes macht aus dem Monster einen Menschen, und das gelingt ihr mit einem unvergleichlichen Humor. Sie kommt dem Wahn auf die Schliche und zeigt die grausame Seite menschlicher Sexualität. Eine gefährliche Mischung, die ihre Glaubwürdigkeit durch die Präzision winziger Details und Stimmungen und die erzählerische Entschlossenheit erfährt. Aber warum sollte man über die Bewunderung des literarischen Handwerks hinaus dieses Buch lesen? Weil Holmes ein einmaliges Portrait der amerikanischen Vorstadt und ihrer Familienstrukturen entwirft, voll spöttischer Ironie und einer unvergleichlich traurigen Note, in der die Einsamkeit der Kinder geschildert wird, für die in der Welt der mit sich selbst beschäftigten Erwachsenen keine Aufmerksamkeit mehr ist. Chappy besitzt sie, und dort beginnt die Tragödie dieser Geschichte.
A.M. Holmes: Das Ende von Alice. Deutsch von Ingo Herzke. Kiepenheuer & Witsch, 290 S., 19,99 €
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