Wie schreibt man als Anfänger einen guten Roman? Genauso, wie ein etablierter Autor. Man entwickelt das dichte Porträt des Protagonisten, schafft ein Geflecht von Nebenfiguren, die kurz aber prägnant gezeichnet werden und entwickelt eine schlagkräftige Dramaturgie. Das Wichtigste ist jedoch, dass man sich in der Welt auskennt, in der die Geschichte spielt. David Abbott kennt die Welt der Unternehmensberater gut, er weiß, wie in den oberen Etagen großer Firmen, gedacht und gehandelt wird. Er kennt die Gier, den Ehrgeiz und die Defizite im Privatleben, die sich unweigerlich beim Durchstarten der Karriere ergeben.
David Abbott hat als Gründer einer der erfolgreichsten Werbeagentur Englands ein Leben in der Geschäftswelt zugebracht. Dann – mit über 70 Jahren – setzte er sich an den Schreibtisch und schrieb den Roman „Die späte Ernte des Henry Cage“. Ein herrliches Buch, das klug, effektvoll und zupackend geschrieben ist. Wenn man es gelesen hat, möchte man vorne wieder anfangen. Tatsächlich beginnt der Roman mit einem Paukenschlag. Abbott hat sozusagen das Ende an den Anfang gesetzt, indem er in einer einzigen langen Rückblende erzählt, wie es zu den Ereignissen des Beginns kommen konnte. Henry Cage ist in Pension gegangen, mit einer Intrige hat man ihn aus dem Geschäftsleben verabschiedet und ihm diesen Schachzug mit Abschiedsfeiern und einem Sack Geld versüßt.
Nun stellt Henry fest, dass um ihn her ein emotionales Ödland entstanden ist. Seine Frau hat ihn verlassen, sein Sohn hat sich abgewendet, enge Freunde gibt es nicht. Durch einen Zufall hat er die Aufmerksamkeit eines Kriminellen erregt, der ihn mit gezielten Aktionen zu schikanieren beginnt. Der Roman erzählt, wie Henry das Leben wiederentdeckt. Eine Beziehung mit einer jungen Frau ergibt sich, bei der Sex eine Rolle spielt. Manche Niederlage muss Henry einstecken, aber er beginnt die Fäden der verlorenen Beziehungen wieder aufzunehmen. Abbott gibt dem Roman eine sinnliche Note, indem er die Welt von Ehefrau, Sohn, Enkel, Geliebter und das Umfeld des penetranten Gauners wie Filmbilder entstehen lässt.
Die manchmal zu appetitliche Perfektion dieser kleinen Szenen ist vielleicht die einzige Schwäche des Romans. Dafür halten einen die klugen Schauplatzwechsel zwischen London, dem ländlichen Norwich und dem fernen Florida aber stets unmittelbar an der Story. In David Abbott begegnet man einem Debütanten, der das Handwerk des Schreibens jedenfalls besser beherrscht als viele seiner etablierten Autorenkollegen.
Am 12. Juli um 20 Uhr liest David Abbott in Köln in der Buchhandlung Bittner (Albertusstr. 6, Tel. 257 48 70).
David Abbott: Die späte Ernte des Henry Cage. Deutsch v. Peter Torberg. dtv premium 258 S., 15,40 €.
Hat Ihnen dieser Beitrag gefallen?
Als unabhängiges und kostenloses Medium ohne paywall brauchen wir die Unterstützung unserer Leserinnen und Leser. Wenn Sie unseren verantwortlichen Journalismus finanziell (einmalig oder monatlich) unterstützen möchten, klicken Sie bitte hier.

Die Liebe und ihre Widersprüche
„Tagebuch einer Trennung“ von Lina Scheynius – Textwelten 11/25
Inmitten des Schweigens
„Aga“ von Agnieszka Lessmann – Literatur 11/25
Mut zum Nein
„Nein ist ein wichtiges Wort“ von Bharti Singh – Vorlesung 10/25
Kindheitserinnerungen
„Geheimnis“ von Monika Helfer und Linus Baumschlager – Vorlesung 10/25
Appell an die Menschlichkeit
Navid Kermanis Lesung im MAKK – Lesung 10/25
Im Spiegel des Anderen
„Der Junge im Taxi“ von Sylvain Prudhomme – Textwelten 10/25
Die Front zwischen Frauenschenkeln
„Der Sohn und das Schneeflöckchen“ von Vernesa Berbo – Literatur 10/25
Alpinismus im Bilderbuch
„Auf in die Berge!“ von Katja Seifert – Vorlesung 09/25
Keine Angst vor Gewittern
„Donnerfee und Blitzfee“ von Han Kang – Vorlesung 09/25
Roman eines Nachgeborenen
„Buch der Gesichter“ von Marko Dinić – Literatur 09/25
Süß und bitter ist das Erwachsenwerden
„Fliegender Wechsel“ von Barbara Trapido – Textwelten 09/25
Geteilte Sorgen
„Lupo, was bedrückt dich?“ von Catherine Rayner – Vorlesung 08/25
Augen auf Entdeckungsreise
„Jetzt geht’s los!“ von Philip Waechter – Vorlesung 08/25
Erste Male zwischen den Welten
„Amphibium“ von Tyler Wetherall – Literatur 08/25
Düster und sinnlich
„Das hier ist nicht Miami“ von Fernanda Melchor – Textwelten 08/25
Die Kraft der Erinnerung
„Das Geschenk des Elefanten“ von Tanja Wenz – Vorlesung 07/25
Eine wahre Fluchtgeschichte
„Wie ein Foto unser Leben rettete“ von Maya C. Klinger & Isabel Kreitz – Vorlesung 07/25
Zart und kraftvoll zugleich
„Perlen“ von Siân Hughes – Textwelten 07/25
Alternative Realität in Tokyo
„Tokyo Sympathy Tower“ von Rie Qudan – Literatur 07/25
Bis zur Neige
„Der Durst“ von Thomas Dahl – Literatur 06/25
Im Reich der unsichtbaren Freunde
„Solche Freunde“ von Dieter Böge – Vorlesung 06/25
Ein Hund als Erzähler
„Zorro – Anas allerbester Freund“ von Els Pelgrom und Sanne te Loo – Vorlesung 06/25
Flucht ins Metaverse
„Glühfarbe“ von Thea Mantwill – Literatur 06/25
Ein Leben, das um Bücher kreist
„Roberto und Ich“ von Anna Katharina Fröhlich – Textwelten 06/25
Die Spielarten der Lüge
„Die ganze Wahrheit über das Lügen“ von Johannes Vogt & Felicitas Horstschäfer – Vorlesung 05/25